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Moore, Wälder, Regen

Sonntag, 28.6.1998: Växjö - Sävsjö 68.7 km

An der Rezeption versorgte man uns freundlicherweise bei der Abreise mit dem Wetterbericht: Regen! Trotzdem brachen wir voller Optimismus auf, denn noch wärmte uns ja die Sonne. Wir prägten uns den Stadtplan Växjös ein und gelangten auf die große Fernverkehrsstraße. Der Helgasjön schiebt in seiner südöstlichen Ecke eine Bucht heraus, die nur von einer einzigen Straße auf einer Brücke überquert wird. Wie schon oft stand uns auch hier ein breiter Randstreifen zur Verfügung, breiter als die Wege, die in Deutschland üblicherweise als Radwege deklariert werden. Zudem fuhren fast alle Fahrzeuge zum Überholen ganz auf die linke Fahrspur. Trotzdem bogen wir bald wieder auf eine kleinere Straße nach Norden ab, und wie zu erwarten gehörte uns diese nach wenigen Kilometern ganz allein.

Überraschend schnell war von der großen, lebhaften Stadt nichts mehr zu spüren. Hier und da schimmerten die roten Dächer vereinzelter Häuser zwischen den Bäumen wie reife Erdbeeren hervor, und gelegentlich kündigte ein Ortsschild eine etwas dichtere Ansammlung dieser hübschen Holzbauten an.

Ein See am Wegesrand In den Wäldern sahen wir gelegentlich Steinmauern, überwuchert von flauschigem Moos und mitunter von Farnen verdeckt. Manchmal führten sie an Wegen entlang, manchmal aber auch quer durch den Wald. Sie zeugen von jahrhundertealten Versuchen, das Land urbar zu machen. Hatten die Siedler den Wald gerodet, so trugen sie die Steine von den künftigen Feldern an die Seite. Manchmal schichteten sie die Felsbrocken zu Haufen auf, meist aber entstanden dabei diese Mauern. Nach einigen Jahren hatte der Boden seine Kraft verloren, man überließ ihn sich selbst, und der Wald ergriff wieder Besitz von seinem alten Land. Heute deutet außer den Mauern nichts mehr darauf hin, daß hier vor vielen Jahren einmal ein Acker gewesen sein könnte.

Gigantische Ameisenhaufen säumten die Straße. Mitunter standen sie nur ein paar Schritte auseinander. Die größten überragten sogar mich. Was im Waldboden zunächst wie ein Wildwechsel oder eine freie Stelle aussah, wurde bei näherer Betrachtung zu einer fußbreiten Ameisenstraße, auf der ein Gewimmel wie beim Endspiel der Fußballweltmeisterschaft herrschte.

Nach etwa zwei Stunden begannen wir, den Straßenrand nach Anzeichen eines geeigneten Rastplatzes abzusuchen. Der feuchte Boden schien uns nicht einladend genug, und an den trockeneren Stellen tummelten sich bereits die Ameisen. Plötzlich entdeckten wir eine Art Abenteuerspielplatz. Auf den zweiten Blick sah der Platz wie ein provisorisches Lager aus: Bänke, eine Grillecke, Holz, vor allem aber eine winzige, aus rohen Stämmen gezimmerte Hütte. Kaum mannshoch, konnten darin vier Leute sitzen, wenn sie sich vertragen. Durch die dicke Grasnarbe auf dem Dach sah die Hütte etwas ungekämmt aus. An den Seiten ließen schräg gegeneinander verschränkte Stämme das Wasser ablaufen. In eine Giebelfront war sogar ein kleiner Kamin eingelassen worden. Als die ersten Tropfen fielen, schafften wir schnell alle Lebensmittel in diese rustikale Behausung.

Irgendwann waren wir satt und der Himmel grau. Kein Anzeichen deutete auf ein baldiges Ende des Nieselregens hin. Wir zogen unsere Capes an und fuhren mit etwas eingeschränktem Sichtfeld und auch etwas langsamer weiter. Freudig begrüßten wir die Momente, in denen die Tropfen seltener fielen, doch sie wurden nur aufgespart und kamen in der nächsten Minute alle zusammen herunter. Als wir reichlich zwei Stunden später Sävsjö erreichten, entschieden wir, für heute genug getan zu haben. Nun mußten wir nur noch den Campingplatz finden. Unter einer Brücke studierten wir die Karte, und kurz darauf rollten wir auf einen nahezu leeren Platz an einem kleinen See zu. Die Anmeldeprozedur verlief unkompliziert wie immer, bis uns die Frau einen Schlüssel hinlegte und 300 Kronen forderte. Was, so viel? Das Mißverständnis klärte sich, sie hatte uns ohne zu fragen eine Hütte vermietet. Wir schauten uns an, betrachteten die kleinen Seen, die sich zu unseren Füßen bildeten, warfen einen Blick auf den unverändert grauen Himmel und fanden die Hütte eigentlich eine prima Idee. Die Verwalterin war sehr geschäftstüchtig: Kaum hatten wir bezahlt und begonnen, die Räder zur Hütte zu schieben, lichtete sich der Himmel, die ersten Sonnenstrahlen brachen hervor, und als wir bei unserem Quartier ankamen, trieb der Wind die letzten großen Wolkenberge eilig über den Himmel. Während in der Hütte das Wasser von unseren Packtaschen lief, begann die Sonne draußen die Wege zu trocknen. Amüsiert zogen wir zum Kiosk und stärkten uns mit der im Mietpreis eingeschlossenen Tasse Kaffee oder Kakao und Kuchen.

Der Sonnenschein lockte uns zu einem Spaziergang. Wir wanderten bis zu einer alten Klosterruine inmitten des Sees. Inzwischen zogen wieder dunkle, schwere Wolken auf, doch die Sonnenstrahlen schienen flach darunter hinweg. In ihrem Licht erstrahlte der Springbrunnen im See zu einer Fontäne des Feuers, strahlend leuchtende Wassertropfen glitzerten vor dem tiefgrauen Hintergrund aus Wolken und Wasser. Gleißend spiegelte sich die Sonne vor dem immer schwärzer werdenden Himmel im See und zauberte eine unwirkliche, märchenhafte Stimmung über die Landschaft. Wenige Minuten nur dauerte der Zauber, dann pustete ein böiger Wind die Wolkenlöcher zu, und im gewöhnlichen Alltagswetter blieb ein Allerweltssee mit einem langweiligen, kleinen Springbrunnen übrig.



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Ralph Sontag, Hildegard Geisler