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Einsames Småland

Sonnabend, 27.6.1998: Olofström - Växjö, 103.0 km

Nachts weckte uns wieder das Prasseln eines Regenschauers, doch diesmal hing alle Wäsche im Zelt. Am Morgen war das Zelt schon wieder getrocknet, und wir zögerten nicht lange mit dem Aufbruch. Schon nach wenigen Kilometern konnten wir die Fernverkehrsstraße verlassen und fuhren auf schmalen Straßen oder breiten Wegen von Dorf zu Dorf. Wir orientierten uns nach den Blättern 1 und 2 der ,,Bil & Turiskartan``. Diese Karte im Maßstab 1:250000 deckt mit nur 6 Blättern ganz Schweden ab und erwies sich als ausgesprochen zuverlässig und hilfreich. Campingplätze, Raststellen, Bademöglichkeiten und Jugendherbergen waren nicht nur in der Natur tatsächlich vorhanden, sondern auch noch genau am eingezeichneten Ort! Den deutschen Reiseradler irritiert zunächst der große Maßstab, doch für ein dünnbesiedeltes Land wie Schweden erweist er sich als ideal, wenn man nicht mehrere Tage an einem Ort verharren will. Vermutlich hat die oft empfohlene ,,Röda Kartan`` (Rote Karte) die gleiche Grundlage, doch benötigt sie 24 Blätter für ganz Schweden, was die Reisekasse mehr belastet. Die ,,Blå Kartan`` (Blaue Karte) kann zwar mit einem Maßstab von 1:100000 weitaus mehr Details darstellen, aber das wird mit einem deutlich höheren Gewicht und bezogen auf die Fläche höheren Preisen bezahlt. Die ,,Gröna Kartan`` (Grüne Karte), 1:50.000 dürfte nur für Wanderer interessant sein. Mit 645 Blättern für ganz Schweden läßt sich damit eine imposante Bibliothek aufbauen.

Neben der guten Karte half uns auch die zuverlässige Straßenausschilderung. Während der gesamten Tour verfuhren wir uns nur ein- oder zweimal ein wenig -- immer auf Radwegen, von denen aus die Straßenbeschilderung nicht sichtbar war.

Wir waren in die hügeligen Waldgebiete von Småland vorgedrungen. Die Dörfer wurden kleiner, ihre Häuser verstreuter. Hätten uns nicht die Schilder darauf aufmerksam gemacht, so wäre die Entscheidung, ob wir in einem Dorf sind, schwer gefallen. Ich legte für mich fest, daß Dörfer aus Straßen bestehen, auf denen man ständig mindestens zwei Häuser sieht, doch wurde ich eines besseren belehrt, als wir auf eine Kreuzung trafen, die auf beiden Seiten ein Ortseingangsschild trug. Außerdem war ein Briefkasten zu sehen, und mit viel gutem Willen ahnte man in den angrenzenden Wäldern einzelne Häuser. Da haben wahrscheinlich die Bewohner der verstreuten Häuschen zusammengelegt und sich Schilder gekauft, um Ortschaft zu spielen, lästerte ich.

Ein Hinweiszeichen auf die ,,Siggamåla Skvaltkvarn`` weckte unsere Neugier. Wir fanden eine im Wald versteckte, frisch restaurierte Wassermühle mit einem idyllischen Rastplatz, wie geschaffen für unser Mittagessen. Unter hohen Fichten stand gleich neben dem Mühlbach ein Tisch mit Bänken. Das Holz strahlte in der Hitze einen würzigen Duft aus. Ein paar Bienen und Fliegen waren zu hören, und manchmal ließ ein Windhauch Blätter rascheln. Eine Tafel klärte uns über die Geschichte der Mühle seit ihrem Bau um 1822 auf. Das waagerecht liegende Rad erstaunte uns, denn diese Konstruktion findet man selten. Immerhin soll sie rund 10 kW Leistung geliefert haben. Zwei Renovierungen in den letzten Jahrzehnten gaben ihr das heutige alte Aussehen zurück, bei der letzten wurde auch ein Parkplatz für 26 PKW angelegt. Ich fragte mich, wo diese Autos herkommen sollen, nachdem wir stundenlang alleine auf der Straße geradelt sind.

Wir fuhren weiter nach Ryd. Dort nahm uns erneut ein umgewidmeter Bahndamm auf. Eine alte, durch den Film ,,Die Auswanderer`` berühmt gewordene Steinbrücke lag nahe am Weg. Der drei Meter breite Weg, von wuchtigen Bögen getragen, nahm früher den gesamten Verkehr auf, der heute über eine mehrspurige Schnellstraße und eine Bahnlinie fließt. Wir kehrten auf das aufgelassene Gleis der alten Trasse zurück. An Bahndämmen findet man überall eine große Vielfalt an Pflanzen, deren Samen durch die Züge in die ganze Welt getragen werden. Im Vorbeifahren sah es aus, als ob jemand mit verschiedenen Stiften immer über die gleiche Zeile geschrieben hätte. Die durch die Bäume brechenden Sonnenstrahlen ließen einige Farben besonders leuchten, das waren dann die Überschriften. Hier und da lugten Pilze aus dem Moos, und bei all unserer Bewunderung für die Natur versuchten wir noch den Nacktschnecken auszuweichen, die gleich uns auf dem Bahndamm unterwegs waren.

Wir erreichten Urshult, wo wir leider feststellen mußten, daß die Geschäfte schon geschlossen hatten. Also brachen wir sogleich wieder auf und fuhren auf einem schmalen, neu angelegten Bahndamm-Weg nach Norden. Dort müssen vor uns zuletzt Planierraupen entlang gefahren sein. Tiefe Rillen kreuzten den Weg, und ich hätte mich nicht gewundert, auf einen Pflug oder eine Egge zu treffen. Ich fuhr sehr langsam und vorsichtig. Dieser Weg war als Radroute ausgeschildert. Eine Hinweistafel belehrte die Radwanderer, daß sie bitte nicht bei den anliegenden Gehöften um Wasser bitten oder nach einem Telefon fragen sollen, wenn sie hier ihr Lager aufschlagen sollten. Endlich nahm uns wieder eine der kleinen Straßen auf. Sie trug zwar keine Radroutenausschilderung, aber wir sahen trotzdem keine Autos.

Die Kirche von Väckelsång Der hügelige Wald war einer flacheren Landschaft gewichen. Wiesen mit Säulenwacholdern wechselten mit kleinen Waldstücken ab, dazwischen leuchteten Felsbrocken im hohen Gras. Moorige Wiesen wehrten sich gegen den Andrang des Schilfes vom See. Zwischen den Sträuchern schimmerte das Rot und Weiß einzelner Häuser hindurch. Gruppen von Tagesausflüglern kamen uns auf Rädern entgegen. In den kleinen Dörfern bereitete man sich auf abendliche Grillpartys vor. Am Wegrand standen preiswerte Erdbeeren neben einer Kasse des Vertrauens. Wir konnten den saftigen, roten Früchten nicht widerstehen und verspeisten sie bei der nächsten Gelegenheit an der mittelalterlichen Holzkirche von Väckelsång.

Wir näherten uns Växjö. Inzwischen hatte ich auch gelernt, die Karte in Stadtgebieten richtig zu interpretieren. Orangefarbene Flächen kennzeichnen normalerweise bebaute Gebiete. Hier, lästerte ich, kennzeichnen sie Gebiete, in den schon mal ein Mensch war. Alles, was eingezäunt ist und ein Haus trägt, wird bereits mit der Farbe der Stadt ausgemalt. So kann es passieren, daß man durch Wälder rollt, in denen links und rechts bereits ein paar Gartenlauben stehen, mit dem gewohnten Blick auf die Karte aber vergeblich Häuserzeilen sucht.

Am Eingang von Växjö fanden wir eine Attraktion besonderer Art: Den Echoturm. Der Wasserturm der Stadt wurde auf acht Doppelsäulen errichtet, die in der Mitte ein Gewölbe tragen. Völlig unerwartet für die Erbauer ergaben sich unter dem Turm faszinierende akustische Effekte, die ihm auch seinen Namen gaben: Pflastersteine kullern mit dumpf hallendem Donnergrollen über das Pflaster. Ein kleines Stück Metall wird zur volltönenden Kirchenglocke. Zwei Leute können den Applaus eines ganzen Saales imitieren. Hildegard sang einen Choral -- und wurde zum Ein-Personen-Chor. Unsere gemeinsame Sangesprobe wurde mit dem Beifall eines ganzen Stadions -- gegeben von fünf Leuten -- belohnt.

Ungern verließen wir diesen herrlichen Ort geräuschvoller Spielereien. Wir mußten ja noch einkaufen, und da Schweden kein Ladenschlußgesetz kennt, gibt es in größeren Orten Läden, die an allen Tagen der Woche, oft bis 22.00 oder sogar 23.00 Uhr geöffnet haben. Man muß sie nur finden. Wir hatten Glück und stießen gleich auf eine Kaufhalle, die offenbar das schwedische Äquivalent zu Aldi bildete. Auf der riesigen Fläche hätten wir alle unsere Wünsche erfüllen können -- wir mußten nur die richtigen Paletten finden. Zudem traf uns hier eine Eigenart schwedischen Einkaufsverhaltens besonders hart. Wir suchten eigentlich Butter in 125-Gramm-Stücken, hatten aber schon gelernt, daß die hiesigen kleinen Stücke 250 Gramm wiegen und 500 Gramm normal sind. In dieser Kaufhalle lag die Butter in Stücken zu je einem Kilogramm im Regal, und erst nach aufmerksamer Suche fanden wir wenigstens 500-Gramm-Pakete. Nun gut, wenn wir unsere Käse- zur Butterdose machen, müßte das eigentlich gehen, sagten wir uns. Auf den Campingplatz-Kiosk wollten wir nicht vertrauen. Wir sahen später, daß es dort auch nur 500-Gramm-Stücke gab. Das Problem setzte sich in analoger Form beim Käse fort, dafür gab es Kartoffeln lose, und wir konnten wenigstens davon eine uns genehme Menge kaufen.

Auf der Fahrt ins Stadtzentrum stießen wir erstmalig auf eine für Radfahrer gesperrte Straße. Die Hinweise auf den Radwegen endeten, und ungewiss, wo wir uns befanden, schlug ich eine mir vertrauenswürdig erscheinende Richtung ein. Die sich durch einige Parks schlängelnden Radwege hatten uns aber unbemerkt nach Nordwesten gelenkt, so daß wir die Stadt am falschen Ende verließen. Die Korrektur des Irrtums bescherte uns eine interessante Fahrt durch langgezogene Industriegebiete, bis wir endlich den Wegweiser zum Campingplatz und danach auch den Platz selbst fanden.

Der Platz bestand aus einer frischgrünen Wiese am Helgasjön, aus der sich wie Klippen aus dem Meer einige Felsen erhoben. Wir hatten freie Auswahl. Während ich das Zelt aufbaute, begann Hildegard in der Küche Kartoffeln zu schälen und den Fisch vorzubereiten. Zwei kleine Mädchen sprachen uns an. Sie hatten zuvor schon ein paar Neuseeländern suggeriert, daß sie Italiener seien, doch Hildegard fand heraus, daß es sich um Kinder polnischer Einwanderer nach Schweden handelte. Wo sie so gut Englisch gelernt hätten, war unsere nächste Frage. ,,Na, in der Schule¡` kam prompt die Antwort von der Älteren mit einem Gesicht, in dem deutlich das Erstaunen über die Dummheit der Fremden geschrieben stand, die nicht einmal wissen, warum Kinder in die Schule gehen. Wir gerieten auch später mehrfach in Gespräche mit 8- oder 9-jährigen Kindern, deren Englischunterricht offenbar so praxisnah geführt wird, daß sie ohne Scheu auf ausländische Touristen zugehen. Hier hatten wir also miterlebt, wie ein 8-jähriges Mädchen in einer Fremdsprache den neuseeländischen Campern einen Bären aufgebunden hat.



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Ralph Sontag, Hildegard Geisler