Das Prasseln fallender Tropfen, durch die Zeltwand vielfach verstärkt, versuchte uns zu wecken. Die Konsequenzen bedenkend, wehrten wir uns tapfer gegen dieses Ansinnen, bis gegen 10 Uhr der Hunger einen weiteren Grund zum Aufwachen lieferte. Ich schälte mich lustlos aus dem Schlafsack, suchte das Waschzeug zusammen und öffnete den Reißverschluß. Das war offenbar ein deutliches Signal für die Wolken: Der Regen hörte auf. Nur von den Bäumen und unserer am Abend im Wald zum Trocknen aufgehangenen Wäsche fielen noch ein paar Tropfen. Wir setzten uns zum Frühstück an einen Holztisch im Freien.
Der Regenguß hatte uns drei Stunden gekostet, dafür waren wir jetzt wunderbar ausgeruht. Hildegard bemerkte gleich nach dem Start, daß ihr Rad schlingerte. Schon am Vortag konnte sie die Berge nur mit mäßiger Geschwindigkeit und mäßigem Vergnügen hinunterrollen, weil schon bei 30 km/h das Hinterrad auszubrechen drohte. Hatte sie gestern noch die Ursache in dem etwas ungünstig verteilten Gepäck vermutet, so war das heute sehr unwahrscheinlich. Besorgt betrachtete und untersuchte ich die Felge. Wir hatten ein sehr hochwertiges Modell eingebaut, und der Augenschein sprach dafür, daß damit alles in bester Ordnung war. Trotzdem konnte nun auch ich mit bloßem Auge die Schlingerbewegungen des Hinterrades erkennen. Es blieb nur der Reifen als mögliche Ursache übrig. Wenn dies der Fall war und sich das Fahrverhalten binnen zweier Tage so dramatisch geändert hat, war es nicht ratsam, jetzt zu zögern. Nach wenigen Hundert Metern kamen wir an einem Fahrradladen vorbei. Reifen der passenden Größe waren vorrätig, aber nachdem ich mit einem zweifelnden Blick auf das angebotene Exemplar erklärt hatte, daß wir über 1000 Kilometer mit Gepäck durch das Land fahren wollen, machte sich der Händler noch einmal auf die Suche. Ein umstürzender Prospektständer verlieh dem Geschäft eine Faschingsatmosphäre, aber dann tauchte das Top-Modell tatsächlich hinter einem Berg von Mountain-Bike-Reifen auf. Wir entschieden uns nach kurzer Beratung für diesen Typ mit dem heiteren Namen ,,Golden Boy``. Wenige Meter weiter wechselte ich in einer Fußgängerzone die Decke aus, während Hildegard Post und Touristeninformation aufsuchte. Den alten Reifen wollte ich nicht wegwerfen, bevor ich absolut sicher war, das Schlingern beseitigt zu haben. Recht bald war zu bemerken, daß nichts mehr zu bemerken war. Das Rad fuhr wieder sicher.
Die Marienkirche von Åhus galt als Sehenswürdigkeit, und da die Frische des morgendlichen Regens einer kräftigen Mittagshitze gewichen war, wollten wir gern einen kühlen Kirchenbau besichtigen. Aus dem 13. Jahrhundert stammend, hatte der Bau mehrere Umbauten erdulden müssen, und ein deutsches Informationsblatt erklärte uns, wo noch Steine aus den ersten Jahren zu sehen waren. Merkwürdig klein wirkte die Kirche von innen, bis wir erkannten, daß ein Teil gerade renoviert wurde und daher provisorisch abgetrennt war. Nun erklärte sich auch die recht weltlich wirkende Musik, die leise zu uns drang: Hinter der hölzernen Schutzwand lief das Radio der Arbeiter! Mit uns besichtigte ein Musikkorps der schwedischen Armee dieses Haus. Den Anblick der mit Soldaten gefüllten Kirchenbänke empfand ich als merkwürdig. Der Küster freute sich über unser Interesse und führte uns zu einem Grabstein auf dem Friedhof. Auf den ersten Blick war es ein Stein wie jeder andere, bis wir die Jahreszahlen genauer betrachteten. ,,Wahrscheinlich ein Scherz vom Steinmetz`` erklärte uns unser freundlicher Führer. Anders dürfte es kaum zu erklären sein, daß in der dort verewigten Familie fast alle Mitglieder um die 130 Jahre alt geworden sind und entweder in hohem Alter oder in frühester Jugend ihre Kinder zeugten.
Ein Wort begegnete uns in Schweden immer wieder: ,,Glas`` oder ,,Glass``. Höchste Aufmerksamkeit ist nötig, damit man nicht statt einem Meister der Speiseeisbereitung einem Glaser gegenübersteht. Auch die Optiker führen dieses Wort im Namen. In Åhus waren uns schon weit vor den Stadtgrenzen Werbetafeln für ,,Glassbåten`` aufgefallen. Da wir schon einmal Eis aus Åhus gegessen hatten, vermuteten wir nun ein Eiscafé auf einem Boot und waren glücklich, genau dies auch vorzufinden. Mit dem vorzüglichen Eis im Bauch verließen wir die alte Stadt in nördlicher Richtung.
Die beiden Reiseradler in Löderup hatten uns von einer herrlichen Tour auf einem alten Bahndamm berichtet, und so folgten wir nicht der von unserem Reiseführer vorgeschlagenen Route, sondern bogen nach Bromölla ab. Es erwies sich im Vorfeld der Reise als schwierig, einen geeigneten Fahrradreiseführer für Schweden aufzutreiben. In mehreren Ländern sammelten wir gute Erfahrungen mit den Cyklos-Führern aus dem Kettler-Verlag. Auch ,,Südschweden per Rad`` existiert in dieser Reihe, doch die Auflage stammte von 1989. In zehn Jahren verändert sich einiges, viele als Erdstraßen angekündigte Verbindungen waren inzwischen asphaltiert, neue Routen ausgeschildert und das Reiseradeln insgesamt ist viel selbstverständlicher geworden. Auch der Verlag hatte das erkannt und für April 1998 eine neue Auflage angekündigt, dann den Termin auf Juni verschoben, und letztlich war das Buch bis zu unserer Abreise nicht zu bekommen. So begleitete uns ein Leihexemplar der 1989er Ausgabe. Man merkt dem Buch an, daß auch Wolfgang Kettler damals lernte. Es wäre unfair, die Kritik jetzt zu weit auszubreiten, denn der Leser dieses Berichts wird vermutlich schon die Neuauflage kaufen können. Hoffen wir, daß die Qualität nun der des ausgezeichneten Bandes ,,Norwegen per Rad`` gleichkommt.1)
Wir steuerten Bromölla an. Auf den letzten Kilometern entlang einer Bahnlinie brausten die ,,Küstensprinter`` an uns vorbei, merkwürdige Züge, die wie Wagen ohne Lokomotive aussehen. An beiden Enden ermöglicht ein Faltenbalg das Ankoppeln weiterer Waggons, dadurch wirkt das ganze Teil sehr unfertig. In Bromölla rasteten wir kurz am Dinosaurierspringbrunnen und suchten nordwärts fahrend die versprochene alte Eisenbahnlinie. Es dauerte gar nicht lange, da wiesen uns Hinweisschilder auf die gesuchte Route. Wir folgten dem Weg durch schattig-feuchte Einschnitte, kühle Tunnel oder über sonnige Dämme. Von Brücken aus konnten wir in die Höfe benachbarter Bauerngüter hineinsehen, und die Orte erkannten wir an den Schildern ehemaliger Bahnsteige. Es dauerte gar nicht lange, da näherten wir uns Olofström. Obwohl wir nicht weit gefahren waren, wurde es allmählich Abend, also sollte Olofström auch zum Tagesziel werden. Wie so oft führte die Radroute auf sehr schönen Wegen in die Stadt, schnitt uns aber von allen wichtigen Informationen ab. Hinweise zu Campingplätzen, Badestellen oder Museen findet der Radtourist nicht, wenn er die Fernverkehrsstraßen meidet. Später verließen wir deshalb in den Städten oft die Radwege. Diesmal waren wir einem schwedischen Paar gefolgt und langten im Zentrum der Stadt an, ohne einen einzigen Wegweiser gesehen zu haben. Dort allerdings herrschte lebhaftes Treiben. Richtig, es war ja das Wochenende nach der Mittsommernacht, und da wird in Schweden gefeiert!
Dieses Wochenende ist eine der wenigen Gelegenheiten, an denen alkoholische Getränke mit einem Alkoholgehalt über 3.5 % auf der Straße verkauft werden. Tatsächlich standen viele Zelte herum, die auf großen Tafeln ,,Stark-Øl`` anpriesen. Für uns war es sehr seltsam, daß vor dem Eingang eines jeden dieser Zelte zwei Uniformierte für die Einhaltung der Ordnung sorgten. Die Schweden, besonders die in den dünn besiedelten Gebieten, gelten als ruhige, zurückhaltende Menschen, bei denen es kein Zeichen des Mißfallens ist, wenn sie auch bei der dritten Begegnung noch nicht zurückgrüßen. Doch zu ganz bestimmten Gelegenheiten verlieren sie diese Zurückhaltung, um ausgelassen zu feiern. Dieses Wochenende war also eine dieser Gelegenheiten. Die Straßen waren voller fröhlicher Menschen, Jahrmarktsbuden versuchten mit ihren Attraktionen Geld zu verdienen, Würste brieten, ein Langos-Verkäufer brachte einen Hauch Ungarn mit, Kinder quengelten und die Männer schlichen um die bewußten Zelte herum.
Wir wollten nun endlich unser Zelt aufbauen und begaben uns auf die Suche nach dem Campingplatz. Der erste Hinweis war zwar richtig, aber das merkten wir erst hinterher, weil wir wegen einiger Verständigungsschwierigkeiten nicht alles erfassen konnten. Eine junge Frau führte uns dann in die richtige Richtung: ,,Ich habe Zeit, ich mache gern einen Abendspaziergang ...`` Der an einem hübschen See gelegene Platz wurde von zwei älteren Leuten betrieben. Offenbar lief der Campingwart nicht gern, denn er wies uns eine nicht sonderlich attraktive Wiese gleich am Eingang zu. Nun, für eine Nacht würde es schon gehen, und nicht lange danach saßen wir mit Brot, Butter und einem Topf voll Suppe am See und sahen den Enten beim Abendspaziergang zu.
1)
Eine erste Stichprobe enttäuschte. Die vorgeschlagenen Routen lassen
noch immer kaum Rundkurse zu, oder man fährt oft
entgegen der beschriebenen Richtung. Manche Routen scheinen nicht per Rad
abgefahren worden zu sein. Mitunter werden kleine, nur für Autos nicht
durchlässige Straßen ignoriert.