Ein strahlend blauer Himmel wurde von einigen Haufenwolken als herrlicher Kontrast benutzt, um die vielfältigen Strukturen möglichst vorteilhaft zur Schau stellen zu können. Dazwischen schaffte es die Sonne selbst durch die Baumkronen hindurch unser Zelt aufzuheizen. Wir begannen den Tag mit einem Bad im Meer. Das heißt, wir wollten es, aber das Wasser war furchtbar kalt für die nachtwarmen Körper! Wir zuckten entsetzt zurück und begegneten verständnisvollen Blicken anderer Frühaufsteher. Doch dann wagten wir es. Zunächst Hildegard, später auch ich, und sogleich waren wir erfrischt und munter und bereit, Schweden zu erforschen.
In der Nähe der großen Fähren treffen sich immer wieder An- und Abreisende, tauschen Neuigkeiten und Hinweise aus, erzählen von ihren Abenteuern und warnen vor Gefahren. So zogen auch wir vor unserer Abreise zu dem anderen deutschen Radwanderpärchen. Die beiden erlebten offenbar heute den ersten richtigen Sonnentag. Acht Stunden Regen ohne Pause, dabei Temperaturen, die bis auf acht Grad absanken, hatten ihnen an manchen Tagen zugesetzt. Ein Bruch eines Lowriders stellte sie vor ziemliche Probleme, denn in Schweden ist diese Art des Gepäckträgers ziemlich unbekannt. Das konnten wir später bestätigen, unsere Vorderradtaschen wurden von den Kindern bestaunt, und wir sahen praktisch keine schwedischen Radwanderer mit gleichartiger Ausrüstung. Die beiden hatten sich zudem eine ,,Abenteuerkarte`` gekauft, und nach dieser Karte mußte man als Radwanderer einfach Abenteuer erleben. Obwohl sie denselben Maßstab wie unsere Karte hatte, waren Straßen und Hinweise viel gröber eingezeichnet und erschwerten die Orientierung. Sie hatten auch bislang vergeblich nach Fischräuchereien gesucht. Nun, da konnten wir helfen -- zumindest heute würden sie eine finden. Ein paar Einkaufstips erwiesen sich als sehr nützlich: Ich glaube nicht, daß wir von allein so schnell auf die Idee gekommen wären, ,,Fil`` zu kaufen, ein frisches und schmackhaftes joghurtartiges Milchgetränk. Beim Brot konnten sie uns nicht helfen. In Schweden gibt es süßes Brot, und damit muß man sich abfinden. Schweden hat nicht umsonst die Bevölkerung mit den schlechtesten Zähnen in Europa. Es gelang uns später nur selten, Brot mit weniger als 10 % Zucker zu kaufen, und selbst dann listete die Verpackung einige merkwürdige Zutaten auf.
Wir wünschten den beiden einen trockenen Urlaubsausklang und fuhren los durch die weiten Getreidefelder Skånes. Skåne oder Schonen ist die südlichste Provinz Schwedens und gilt als Kornkammer. Skåne wurde erst 1658 mit dem Frieden von Roskilde von Schweden übernommen, und die Einwohner haben lange Zeit benötigt, sich mit den neuen Herren anzufreunden. Heute sieht man vielerorts zwei Fahnen in Skåne wehen: die schwedische und die skånische.
Dank Karte, Reiseführer und einer ausgezeichneten Ausschilderung rollten wir souverän auf den kleinen Straßen über die flachen Hügel. Wir erreichten die Festung Glimmingehus. ,,Die Sache mit dem Fuchs und der Kampf mit den Ratten`` fiel uns ein. Hildegard versucht, bevor sie in ein fremdes Land fährt, Bücher einheimischer Autoren zu lesen. Diesmal war die Wahl auf ,,Nils Holgerssons wundersame Reise durch Schweden`` von Selma Lagerlöf gefallen. Glimmingehus war also jene Festung, die Nils Holgersson vor den grauen Ratten rettete. Er hatte die Ratten mit der Pfeife, die die alte Schleiereule im Dom von Lund aufbewahrt hatte, so weit weggelockt, daß die schwarzen Ratten zurückkommen und die Verteidigung übernehmen konnten. Das Buch erwies sich als gute Reisevorbereitung. Wenn auch die Geschichte selbst nicht in den Annalen der Festung verbürgt ist, so traf doch die Beschreibung der Gänge und Zimmer weitgehend zu, und das alte Bauwerk war uns auf geheimnisvolle Art nicht mehr fremd.
Glimmingehus wurde 1499 als Burg gebaut und hat nie eine Belagerung durchmachen müssen. Das Gebäude sah recht ungewöhnlich für eine Burg aus: Es gab keine Zinnen, Höfe, Türme oder Tore, sondern nur das eine massive Haus, das durch einen Wassergraben etwas zusätzlichen Schutz genoß. Die Verteidiger hatten nur die Mauern dieses riesigen Kastens als Schutz. Dadurch verwundern die vielfältigen und sinnreichen Verteidigungseinrichtungen nicht. Selbst durch die Treppenstufen konnte man auf heranstürmende Angreifer schießen. Ob das aber tatsächlich so funktioniert hätte, erscheint mir sehr zweifelhaft, denn in den oberen Stockwerken gab es nur wenige Zimmer und kein Wasser. Lange Zeit hätten sich die Kämpfenden dort nicht halten können.
Wir aßen ein Eis und verließen die mit 500 Jahren sehr junge Burg, denn vor uns lag Kivik mit seinen 3000 Jahre alten Gräbern. Wunderschön lag die Stadt am Ufer der Bucht, auf die wir von den Hängen einen weiten Blick hatten. Wir ließen die Räder rollen und schossen auf den Serpentinen in die Straße hinein, die zu den Gräbern führen mußte. Einige Reisebusse überholten uns, links und rechts begannen Apfelplantagen. Nach einem Kilometer überkamen uns Zweifel -- die Karte war bislang sehr genau gewesen, und wir hätten schon längst am Ziel sein müssen. Andererseits -- wo sollen die Busse denn hinfahren? Schließlich stießen wir auf ein großes Schild ,,Kiviks Musteri``, und einladend standen die Tore von ,,Kiviks Applethus`` offen. Statt Gräbern also eine Kelterei! Wenn wir schon mal hier sind, können wir uns das Ganze auch einmal ansehen, sagten wir uns und parkten die Räder neben einem Bus aus Naumburg. Dessen Insassen schleppten gerade Paletten mit Apfelsaft im Tetrapack herbei.
Wir schlenderten durch die Ausstellungs- und Verkaufsräume und begannen den Eifer unserer Landsleute zu verstehen: Hier konnte man Apfelsaft nach Sorten kaufen wie sonst nur Wein, und der frisch gepreßte Saft schmeckte vorzüglich, wie eine Kostprobe ergab. Wenige Tage haltbar hatte er nichts von künstlichen Konservierungsmitteln oder Zucker an sich. Unsere Transportkapazitäten beschränkten sich auf ein paar Trinkflaschen, trotzdem füllte sich unser Korb auf dem Weg zur Kasse mit Marmelade und Saft, Blaubeersuppe und getrockneten Äpfeln. Was für eine geniale Geschäftsidee wurde hier verwirklicht! Das sollten unsere Keltereien in Wolkenstein oder Lockwitzgrund auch können.
Nun wollten wir aber endlich wissen, was es mit den Gräbern auf sich hat. Wir fuhren zurück nach Kivik, bogen an dem Abzweig in Richtung Zentrum ab und fuhren gleich darauf an einer Kuhweide vorbei, die einige Steine trug. Die Schiffsform dieser Steine wies auf ein altes Grab hin, und eine kleine Tafel versuchte Erklärungen zu geben, was ihr aber nicht gelang, weil das Papier zerrissen war. Wir kletterten auf die Weide, von den Stieren aufmerksam beäugt und schauten uns etwas enttäuscht die Steinbrocken an. Eigentlich waren die Fischer, die weiter hinten auf riesigen Gestellen ihre Netze sortierten, viel interessanter. So dauerte es nicht lange, bis wir wieder im Sattel saßen, um nach 50 Metern erneut anzuhalten. Hier befanden sich die richtigen Gräber! Hier standen Schilder, und es kostete auch ein wenig Eintrittsgeld. Ein Steinhaufen von etwa 20 Metern Durchmesser umschloß eine Grabkammer, die man durch einen gewundenen Gang betreten konnte. Darin fanden wir Felsmalereien unserer Vorfahren, dank aufmerksamer Restauratoren auch für unsere Augen sichtbar gemacht.
Die langen Abende des Nordens verschoben auch unseren Tagesrhythmus. Der Nachmittag war schon weit fortgeschritten. Wir begannen, Hunger zu verspüren, Zeit für's Mittagessen also. Zumindest war für uns diese Mahlzeit jetzt dran. Wir fuhren hinunter zum Hafen und fanden unweit des Kais einen Tisch mit Bänken. Ein Schild bat um sauberes Verlassen des Rastplatzes, ein Tuch nebst Eimer und ein nahegelegener Wasserhahn machten es leicht, der Bitte Folge zu leisten. In der Nähe waren wieder Fischer mit dem Aufrollen ihrer Netze beschäftigt. Am schönsten war aber, daß das nächste Haus eine Fischräucherei beherbergte. Trotz gut gefüllter Vorratstaschen stattete ich ihr einen Besuch ab. Gleich am Eingang wurde der Kunde eingeladen, vier Sorten Sild zu probieren. Solange sich andere Menschen am Tresen drängten, widmete ich mich der Verkostung, dann stand ich vor der schweren Aufgabe, aus dem vielfältigen Angebot eine Auswahl zu treffen. Räucherfisch hatten wir nun mehrfach probiert. So entschied ich mich für einen Salat, ein paar Pasteten und einige delikate Fischchen. Zusammen mit den Säften und unseren Vorräten konnten wir eine umfangreiche Mahlzeit zusammenstellen, die jeden Feinschmecker befriedigt hätte.
Steil bergauf führte die Straße aus Kivik heraus, bevor es im welligen Hügelland Skånes wieder leichter voranging. Die wenigen Häuser am Straßenrand ließen sich in zwei Klassen einteilen: Normale Häuser und Häuser, die eine Galerie, ein Antiquitätengeschäft oder zumindest eine Restaurationswerkstatt enthielten. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so viele Angebote alter Möbel und anderer Antiquitäten gesehen zu haben, wie in jener Region. Auf jeden Fall dürfte der Handel ein wichtiger Erwerbszweig für Skåne geworden sein.
Erstaunlich schnell kamen wir jetzt voran. Ein leichter Rückenwind machte das Radeln zur reinen Freude, und bald hatten wir Vittskövle erreicht, eine ebenfalls aus dem Buch von Selma Lagerlöf wohlbekannte Burg. Sie befindet sich in Privatbesitz, so kamen wir nicht in den Versuch, sie besichtigen zu wollen. Wir liefen um die hohen roten Mauern herum, die sich prachtvoll in das weiche Licht der Abendsonne getaucht im Wasser spiegelten.
Weil das Wetter so schön war, beschlossen wir, bis Åhus zu fahren. Dort angelangt, fanden wir schnell den Campingplatz, wo wir unser Zelt neben einer Familie aufbauten, die auch per Rad unterwegs war. Ihre beiden Kinder saßen unterwegs im Anhänger und auf einem Kindersitz. Jetzt waren sie natürlich überhaupt nicht müde -- wieso auch, wenn die Sonne noch so schön scheint? Die Mutter, vollauf mit dem Einfangen ihrer Sprößlinge beschäftigt, erzählte uns von ihrer gemieteten Hütte in Osby. An den vergangenen Tagen hatten sie alle möglichen Regentagausflüge unternommen. Nun waren sie glücklich, an ihrem ersten Sonnentag mal etwas weiter gekommen zu sein und blieben ihrer Hütte eine Nacht fern.
Ich versuchte, in der Küche des Campingplatzes eine Suppe zu kochen. Das war nicht einfach, denn der Herd verlangte eine Krone für drei Minuten Strom. Zwar hätte ich dann vier Kochplatten heizen können, doch das half mir wenig. ,,Und lasse es 10 Minuten auf kleiner Flamme kochen ...`` verlangte die Anweisung. Ich schaffte es dank ausgeklügelter Nutzung der Restwärme, dies mit zwei Münzen zu erfüllen. Glücklicherweise hatten die Küchen späterer Campingplätze zwar eine Zeitschaltuhr, die verhinderte, daß vergeßliche Zeitgenossen die Platten glühen lassen, aber keine Münzautomaten mehr.