Zum Frühstück fanden wir uns zum Buffet in der Jugendherberge ein. Neben uns saß eine vierköpfige schwedische Familie, die sich ihr Frühstück mitgebracht hatte: Vier Sorten Müsli, vier Sorgen Joghurt, vier Sorten Marmelade -- jeweils streng den einzelnen Familienmitgliedern zugeordnet. Es gab heftigen Protest, als die Mutter ihren Sohn überreden wollte, den letzten Rest Joghurt der Schwester aufzubrauchen. Also wurde das nahezu leere Tetrapack wieder sorgfältig im Verpflegungskorb verstaut.
Bevor wir richtig losrollten, wollten wir uns noch die berühmte Bohus Festung ansehen, deren alte Mauern wenige Meter neben dem Campingplatz emporragten. Jahrhundertelang hatte sie als Grenzfestung gedient und wurde niemals erobert. Einmal wäre es beinahe soweit gewesen: Im Jahre 1566 hatten 250 schwedische Krieger den roten Turm eingenommen und bereits die schwedische Flagge gehißt. Plötzlich jedoch flog der Turm mit einer gewaltigen Explosion in die Luft: Ein dänischer Soldat hatte den Pulvervorrat gezündet. Durch den ,,bohuslänischen Knall`` erlitten die Schweden eine furchtbare Niederlage mit 2300 Gefallenen. Erst 1658 zogen sie endgültig auf der Burg ein, als sie ihnen durch den Friedensvertrag von Roskilde zugesprochen wurde. Die neuen Grenzen nahmen den Mauern die strategische Bedeutung, weswegen sie Gustav III. niederreißen wollte. Doch die Burg hielt auch diesem Angriff stand. Später holten sich die Bauern und Bürger ihr Baumaterial aus den Trümmern. Inzwischen steht die Burg unter Denkmalsschutz, und die erhaltenen Reste werden mühevoll konserviert. Wir erklommen die steilen, unregelmäßigen Treppen. Der weite Rundblick zeigte, weswegen dieser Platz so begehrt war: Göta und Nordre Älv begegnen sich hier, und damit konnten Handelswege der gesamten Umgebung ausgezeichnet kontrolliert werden.
Wir stiegen durch verfallene Türen, erklommen enge, in den Mauern verborgene Wendeltreppen, sahen alte Wasserreservoirs und irrten durch verwinkelte Gänge. Im verbliebenen Turm lenkte eine Fotoausstellung die Aufmerksamkeit des Besuchers auf sich. Irgendwann hatten wir dann doch fast alles gesehen und kehrten zu unseren Rädern zurück.
Unserem Reiseführer war zu entnehmen, daß die Route nach Göteborg nicht sonderlich attraktiv war. Zudem wehte der Wind recht kräftig aus Südwesten, so daß ich eine kleine Umgehung vorschlug. Im Schutz einiger Hügel gelangten wir nach Säve und von dort auf einer vergleichsweise ruhigen Straße weit nach Göteborg hinein. Irgendwann begann dann eine separate Wegweisung für Radfahrer, der wir zunächst mißtrauisch folgten. Unser Vertrauen stieg jedoch, als an einer Baustelle auch der Radverkehr mit einigen Hinweisschildern auf einer zumutbaren Route umgeleitet wurde. Wir gelangten über eine weitspannende Brücke ins Zentrum, wo wir erst einmal am Gustaf-Adolf-Platz pausierten. Ich hielt es für eine gute Idee, etwas zu essen und begab mich auf die Suche nach einer Konditorei. Es gab einige, doch verkauften sie alle nur innerhalb ihres Cafés, nicht aber über die Straße. Das verblüffte mich, denn andere Läden öffneten ja auch am Sonntag, warum sollte ein Konditor nicht auch seinen Kuchen anbieten? Da die Praxis meine Theorie offensichtlich ad absurdum führte, zogen wir weiter.
Wir wollten Göteborg heute durchqueren, also mußten wir gut auswählen, was wir uns ansehen. Wir entschieden uns für die Altstadt, die Kaga. Schmale kopfsteingepflasterte Straßen führen zwischen unten aus Stein, oben aus Holz gebauten Häusern hin. Flanierende Spaziergänger, Radfahrer und spielende Kinder bestimmen das Bild. Ein einladendes Café hatte seine Tische auf die Straße gestellt, und da unsere Mägen noch immer leer waren, fiel uns die Entscheidung nicht schwer. Das Café Huzaren wurde von einem unserer Prospekte lobend hervorgehoben. Unser Smørebrød mit Salat und das Stück Käsetorte schmeckten tatsächlich ausgezeichnet.
Verführerischer Duft nach exotischen Gewürzen strömte einige Meter weiter aus einer geöffneten Ladentür. Drinnen fanden wir ein exotisches Gemisch aus getrockneten Früchten, vielerlei Chutney, Kräutertees und indonesischen Zutaten. Jede Ecke erinnerte an einen anderen Teil der Welt. Wir gerieten mit dem Händler ins Gespräch, der über 3000 Artikel auf einer winzigen Fläche anbietet und dessen Hauptproblem das Unwissen der Kundschaft über die Anwendung dieser Vielfalt an kulinarischen Möglichkeiten ist.
Schließlich begannen wir, nach der richtigen Straße gen Süden zu fahnden und gerieten erneut in das gut ausgebaute Wegweisungssystem für Radfahrer. Breite, glatte Wege, frei von Bordsteinkanten und anderen künstlichen Hindernissen, ermöglichten ein rasches Vorwärtskommen. An den wenigen Kreuzungen wurden Sichtschneisen freigehalten und dem Radweg teilweise Vorfahrt gewährt. So hatten wir Göteborg schneller als gedacht verlassen und fuhren nun auf einer aufgelassenen Eisenbahntrassen in sanftgeschwungenen Bögen nahezu unmittelbar an der Küste dahin. Der Weg wurde stark genutzt: Familien auf einem Tagesausflug, Alltagsradler auf dem Weg zur Arbeit und Jogger beim Training kamen uns entgegen. Im ersten Vorort änderte sich das Bild. An jeder Kreuzung standen Umlaufsperren auf unserer Trasse, zwei gegeneinander versetzt aufgebaute Gitter, die man nicht in gerader Linie durchfahren kann. Sie sollen verhindern, daß Autos oder Motorräder in den nur mit einer dünnen Asphaltdecke versehenen Radweg einbiegen und zugleich die Radfahrer zur Vorsicht zwingen. Diese Hindernisse banden unsere gesamte Aufmerksamkeit. Der verbliebene Spalt war so schmal, daß wir jedesmal fürchteten, mit den Packtaschen hängenzubleiben und zu stürzen. Zudem kostete es viel Kraft, die gerade in Fahrt gekommenen, schwer bepackten Räder immer wieder bis zum Stillstand abzubremsen und dann erneut zu beschleunigen, nur um das Spiel nach sechs Metern auf der anderen Seite der Kreuzung zu wiederholen. Der Weg ist für Fahrräder mit Anhänger oder Tandems dadurch unpassierbar, und wir raten auch Reiseradlern mit ausladendem Gepäck, sich eine andere Route zu suchen.
Hinter Särö fand der Unsinn ein Ende, zugleich gerieten wir in das Wegweisungssystem des ,,Ginstleden``. Durch Schweden führen mehrere Fernradwege, doch die meisten findet man nur mit einer zusätzlichen Karte, weil an zu vielen wichtigen Punkten Wegweiser fehlen. Dem Ginstleden begannen wir jedoch zu vertrauen, zuverlässig führten uns die Symbole auch über verzwickte Kreuzungen und Abzweige. Später merkten wir, daß in Halland alle Radwanderwege so vernünftig beschildert sind. Halland lebt von seinen Touristen, und da die Strände nicht an jedem Tag zum Bad einladen, müssen Alternativangebote dafür sorgen, daß die Urlauber bleiben. Neben den Radwanderwegen sind das zweifellos die Golfplätze. Innerhalb einer Stunde konnten wir drei Stück davon bewundern, mit starkem Seewind, im Wald und auf freiem Feld. Von manchen Orten läßt sich ein gutes Dutzend Plätze zu Fuß oder per Rad erreichen. Übungsplätze ermöglichen auch Anfängern den Einstieg. Die Wiesen dieser Golfschulen sind mit Bällen übersäht. An einer Stelle war ein Ball bis auf unseren Weg gerollt, wo ich ihn als Souvenir im Vorbeifahren aufnahm.
Mich interessierte, wie diese Nobelvororte per Bus erreichbar sind und studierte an einer Haltestelle den Fahrplan. Überrascht las ich, daß erst nach Mitternacht ein Stundentakt die häufigeren Fahrten ersetzt und nur in den frühen Morgenstunden eine kurze Nachtruhe gehalten wird. So etwas wünsche ich mir für Chemnitz auch!
Kungsbacka überraschte uns durch ein Freiluftkonzert. Unserem Weg folgend, bogen wir um eine Ecke und standen plötzlich auf einer Wiese, wo zwei Musiker einer Menge begeisterter Rentner die schwedische Variante volkstümlicher Weisen darboten.
Allmählich wurden wir müde und beschlossen, in Åsa unser Zelt aufzuschlagen. Der Zeltplatz befand sich unmittelbar neben einigen Kneipen und konnte diese als Campinggaststätte deklarieren. Das bringt Sterne, für die wir auf dem Campinggelände selbst vergeblich eine Erklärung suchten. Wir erhielten aber eine Übersichtskarte mit Hallands Radwanderwegen und konnten eine der letzten freien Parzellen belegen. Nach einem ausführlichen Abendessen schlenderten wir an den Strand, wo uns die Klippen zum Klettern animierten. In der hin und wieder hochsprühenden Gischt sahen wir die Sonne im Meer versinken, beobachteten das Spiel des Wassers zwischen den ausgewaschenen Steinen und wußten, daß uns nur noch eine Woche des Urlaubs verblieb.