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Wasserkräfte

Sonnabend, 4.7.1998: Hunneberg - Kungälv, 84.2 km

Fröstelnd krochen wir aus den Schlafsäcken und schlugen das Zelt auf, damit das Kondenswasser abtrocknen kann. Die Ameisen waren schon wieder in dichtem Gewimmel unterwegs. Die Sonne schob ein paar Wolken zur Seite und heizte rasch die Felsen auf. Die Temperatur stieg so schnell, daß ich beim Frühstück schon wieder in den Schatten flüchtete. Wir packten zusammen und brachen auf. Natürlich wählten wir einen Weg, den wir noch nicht kannten. Anfangs breit und gut befahrbar, wurde er zum Fußpfad und selbst diese Bezeichnung war zu hoch gegriffen. Wir schoben unsere Räder durch tiefes Gras, über Felsen und sumpfige Stellen bis wir vor einem Bächlein standen, das sich durch mehrere Meter Sumpf geschützt hatte. Selbst ohne Rad wären wir hier nicht trockenen Fußes hinübergekommen, und wie es drüben weiterging, war unklar. Also kämpften wir uns durch knapp 2 Kilometer Urwald zurück und gelangten auf vertrauten Wegen zurück zur Straße. Mit einer rasanten Abfahrt verließen wir den Hunneberg und tauchten schneller als gedacht in den Verkehr der nahen Stadt ein.

Nachdem ein ausgezeichneter Milchshake in der Fußgängerzone das Waldfrühstück ergänzt hatte, fuhren wir zu den berühmten Schleusenanlagen. Noch mehr als die Schleusen interessierten mich jedoch die Wasserkraftwerke. Wir stellten unsere Räder zunächst vor dem Museum des Energiebetriebes ab. Instruktive Experimente und anschauliche Tafeln vermittelten die Prinzipien der Energieumwandlung. Unsere Überraschung über den Energieerhaltungssatz hielt sich in Grenzen, doch Kinder hätte man hier sehr gut mit den Grundlagen der Physik vertraut machen können. Eine Stimme kündigte mehrsprachig eine Führung durch das Kraftwerk Olidan an. Darauf hatte ich gewartet! Welche Sprache wir bevorzugen, wurden wir gefragt. Wir boten Englisch oder Deutsch an. Ein anderes Pärchen konnte nur Englisch. Weil wir aus Deutschland kamen, wurde uns eine deutsche Führung zuteil, und die anderen beiden starteten kurz darauf mit englisch sprechender Begleitung. Zu dritt stiegen wir die lange Treppe zum Turbinenhaus hinunter, wo uns die junge Dame mit einigen Zahlen fütterte. Immerhin die Hälfte der schwedischen Energie wird aus Wasserkraft, die andere Hälfte aus Atomkraft gewonnen. Der Wasserfall von Trollhättan alleine produziert ein Prozent des Landesbedarfs. Bereits 1906 entstand die erste Anlage mit 13 Turbinen, 1942 wurde das neue, nicht zu besichtigende Kraftwerk Hojum gebaut. Wegen des Krieges entschied man sich für eine im Felsen verborgene Variante. Die neuen Turbinen haben einen höheren Wirkungsgrad, so daß der meiste Strom heute dort produziert wird. In dem alten Werk laufen maximal fünf der dreizehn Anlagen.

Turbinenhalle des Kraftwerks Olidan in Trollhättan

Endlich konnten wir die Turbinenhalle betreten. Dreizehn Turbinen trieben dreizehn Generatoren, größer als ein Elefant. In Reih und Glied standen die gewaltigen Zylinder hintereinander, die letzten verschwammen im Zwielicht der hinteren Regionen. In der Mitte standen zwei Gleichstromaggregate, die Anfang des Jahrhunderts Trollhättan mit Strom versorgten. Blitzende Messinglettern gaben über Hersteller und Leistung Auskunft. Mattschwarze Gußteile ragten aus dem blanken Fliesenboden in die Höhe. Gelblich schimmernde Ölleitungen führten zu verchromt glänzenden Hydraulikzylindern. Auf weißen Skalen vibrierten schwarze Zeiger. Außer uns war nirgendwo ein Mensch zu sehen, die leise summenden Wellen produzierten das einzige Geräusch. Fasziniert verließen wir dieses Zeugnis großartiger Industriearchitektur.

Ich konnte gleich weiterstaunen, als ich begriff, wie die Turbinen in die Halle gelangen. Ein Eisenbahngleis führte oben zum Kraftwerk, querte den Kanal auf einer Drehbrücke und endete in einer Drehscheibe. Von dort führte ein Stück Gleis auf einen Ausleger, von wo die Waggons über 20 Meter in die Tiefe abgeseilt werden konnten und über zwei weitere Drehscheiben bis in die Halle fahren konnten.

Vom Museum fuhren wir zu den Schleusenanlagen, einer alten, dreistufigen und gleich daneben einer neuen, in der die Schiffe den Höhenunterschied von 32 Metern in einem Zug bewältigen. Ein buntes Gewimmel von Reisegruppen und einzelnen Touristen tummelte sich auf den Wegen zu den Schleusentoren. Plötzlich entdeckte eine Gruppe älterer Damen den weißen Hut auf Hildegards Gepäckträger. Augenblicklich eingekreist, wurde sie von allen Seiten mit Fragen und Ausrufen überschüttet, die sie auch verstand, aber nicht auf schwedisch beantworten konnte. Wie ein Hühnerhof, in den man eine Handvoll Futter geworfen hatte, sah es um Hildegards Rad aus, bis sich der Hahn in Form eines rotgekleideten, massigen Reiseleiters dazwischen schob und mit ausgebreiten Armen für Ruhe sorgte. Er übersetzte Hildegards Erklärungen ins Schwedische, erkundigte sich nach unserer Herkunft und wechselte zwanglos ins Deutsche. Glücklich, seine Neugier befriedigt zu haben, zog der Schwarm weiter, während wir uns lachend in die andere Richtung wandten.

Nach einem dringend nötigen Einkauf wurde es 15 Uhr und wir fanden uns mit vielen anderen Ausflüglern auf der Straßenbrücke an den Wasserfällen ein. Mindestens einmal am Tag wird der Fall wieder ,,in Betrieb genommen.`` Am Wochenende geschieht das um 23 Uhr, wo das beleuchtete Wasser besonders eindrucksvoll aussieht, und um 15 Uhr. Pünktlich auf die Sekunde krochen am oberen Wehr die ersten Rinnsale in das Felsgewirr, schwollen rasch an und verbreiteten lauter werdendes Rauschen. Etwas später öffnete sich auch das näher zu uns liegende Wehr, beide Ströme vereinigten sich zu unseren Füßen und wälzten sich weiß gischtend unter der Brücke hindurch. 300000 Liter Wasser donnerten nun pro Sekunde ins Tal, verbargen die Felsen hinter Nebelvorhängen und zeugten von der urwüchsigen Gewalt des Wassers. Nach fünf Minuten schlossen sich die Tore wieder, der Wasserfall wurde bezähmt, das Publikum begann sich zu zerstreuen.

Wir verließen Trollhättan auf einer steilen Straße, rasteten kurz im Wald, um nicht alle Einkäufe mitschleppen zu müssen und fuhren am Ufer des Göta Älv nach Südosten. Es trat sich schwer heute, und wir merkten, daß wir all die Tage zuvor entweder gar keinen oder leichten Rückenwind gehabt hatten. Es war angenehmer, im Windschatten eines Berges emporzuklettern, als auf ebener Straße gegen die weiche Wand ankämpfen zu müssen.

Zwei Radwanderer begegneten uns, und wir hielten zu einem kurzen Gespräch an. Noch am Beginn ihrer Tour stehend interessierten sie sich für unsere Wetter- und Einkaufstips. Sie hatten gleich beim Start eine Panne gehabt und mußten fachmännische Hilfe in Anspruch nehmen. Das war in Göteborg kein Problem, aber auch nicht billig. Zudem war ihre EC-Karte nicht gern gesehen und sie hatten Bargeldsorgen zu lösen. Wir bauten auf Reiseschecks und Visa-Card, damit gab es keine Probleme.

Es dunkelte schon, als wir ziemlich erschöpft Kungälv erreichten. Ein seriös wirkender Wegweiser lud die Radfahrer auf eine separate Route ins Zentrum sein. Er blieb der einzige Vertreter seiner Art, und nach mehreren sehr intuitiv gefällten Entscheidungen waren wir sehr froh, tatsächlich das Zentrum zu erreichen. Nur hatten wir dadurch wieder eventuelle Wegweiser zu Campingplätzen verpaßt und wählten unsere Richtung erneut aufgrund unseres Gefühls. Wir hatten Glück, bald sahen wir das vertraute Symbol, welches sogar zwei Plätze ankündigte. Unsere erste Wahl führte auf eine Betonfläche. Diesen Platz verließen wir fluchtartig. Wir fanden am Vandrerhejm eine brauchbare Wiese, die auch andere Camper und sogar Radwanderer beherbergte. Unsere Nachbarn stammten aus Israel und Amerika und waren gerade aus Oslo kommend an der Küste entlanggeradelt. Den Israeli interessierte unsere Zeltkonstruktion, weil sein Ein-Mann-Zelt bei schräg fallendem Regen nicht wasserdicht war und er dringend eine bessere Lösung suchte. Er kroch dann in seinen Schlafsack und war am nächsten Morgen schon verschwunden -- offenbar hat ihn der nächtliche Regen aus seinem Zelt gespült.

Wir kochten uns in der Herbergsküche ein leckeres Abendessen. Ich schlenderte zum Fernsehraum, wo die Fans die Weltmeisterschaft verfolgten: Deutschland gegen Kroatien. In den Sesseln lümmelten sich die jugendlichen Herbergsgäste -- ein vertrauter Anblick. In den Händen hielten sie Tetrapacks mit Joghurt oder Milch - was sehr ungewohnt aussah. Als der Ball zum zweiten Mal im deutschen Tor landete, zog ich mich zurück.



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Ralph Sontag, Hildegard Geisler