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Pannenhilfe

Freitag, 3.7.1998: Lidköping, - Hunneberg, 72.1 km

Relativ zeitig verließ mich der Tiefschlaf, und ich döste vor mich hin. Ich sah die einsamen Wege vor mir, die wir zurückgelegt hatten, die rotweißen Holzhäuser mit ihren frischgemähten Wiesen. Das fiel uns immer wieder auf: Wohin wir auch kamen, der Rasen war frisch gemäht. Das Land hat nur 8.7 Millionen Einwohner -- wie schaffen die es nur, derartig gewaltige Flächen pausenlos zu mähen? Es war ja nicht so, daß der Schnitt Wochen zurücklag, nein, maximal ein paar Tage waren vergangen. Vielleicht hat das was mit Statussymbolen zu tun? Schließlich fuhr hier fast jeder einen großen Volvo, also versagt das Auto in dieser Funktion. Der Ersatz der Schweden ist ein Rasenmäher. Wir sahen alte Herren und junge Mädchen auf beeindruckend großen Gefährten um ihre Häuser kurven. Jetzt merkte ich auch, welches Geräusch mich geweckt hatte: Ein Rasenmäher, der versuchte, von der Wiese noch einen halben Zentimeter abzusäbeln.

Wir standen auf. Eine sehr dunkle Wolke, die sich zu einer schwarzen Wand ausweitete, brachte uns auf die Idee, vor dem Frühstück das Zelt abzubauen. So saßen wir inmitten unseres Gepäcks und aßen frische Brötchen, während um uns herum ein verzweifelter Rasenmäher kreiste. Unsere Packtaschen standen wie Zinnen einer Burg um uns herum, und wir verteidigten unsere Parzelle wacker, bis sich der Angreifer anderen Teilen des Platzes zuwandte. Beim Bezahlen an der Rezeption trafen wir den Maschinisten wieder, als er sich gerade für die zweite Rasur der Wiese stärkte.

Lidköping verfügte über einen großen Markt, dessen Weite durch Bäume, Laternen und Pflasterung geschickt gebrochen wird und dadurch einladend wirkt. Ein sehenswertes Rathaus, das nach einem Brand 1960 originalgetreu wiedererrichtet wurde und seitdem nie mehr als Rathaus gedient hat, markiert den Eingang zur Fußgängerzone.

Kleine Straßen führten uns durch schon vertraute Landschaft. Zwei Windmühlen begründeten eine kurze Pause. In einem Wald standen so viele Pfifferlinge an der Straße, daß wir unseren Speiseplan erfreut umstellten. Ich nutzte die Pause für einen kurzen Weg ins Gebüsch und erlebte hier endlich einen der berühmten Angriffe schwedischer Mücken. Während ich mich einer Situation befand, in der man sich schlecht wehren kann, ließen sich acht oder zehn von ihnen auf meinen Beinen nieder. Ich meisterte die sich daraus ergebenden Koordinationsprobleme, verließ dann aber doch eilig dieses Waldstück.

In Tun wiesen Tafeln stolz auf die alte Dorfschule hin, in der der Pfarrer aus eigener Kraft einen Unterricht organisierte. Das war seinerzeit ein Novum, und Tun verfügte dadurch etwas später über das erste Gymnasium der Region. Ein Verkehrszeichen ,,Achtung, Flugzeuge`` weckte bei Noleby unsere Aufmerksamkeit. Gleich neben dem Asphalt begann die quer zur Straße verlaufende Wiesenrollbahn. Hier muß man den Kopf einziehen, wenn tatsächlich mal ein Flugzeug landet! Wenige Meter weiter hörten wir ein tiefes Brummen und sahen dann auch eine schwere, viermotorige Propellermaschine, die sich mühsam durch die Luft schleppte. ,,Die will ich landen sehen¡` rief ich Hildegard zu. Sie rollte weiter. Ein Weg bog von der Straße ab. ,,Gute Idee`` dachte ich für mich, denn wenn wir dort einbiegen, brauchen wir nur den Kopf zu wenden und müssen uns nicht umdrehen, wenn wir die Kiste landen sehen wollen. Ich schaute kurz zum Flugzeug und wieder geradeaus -- und vor mir stand Hildegard. Die Reflexe funktionierten, ich griff in die Bremsen, zog das Vorderrad kräftig nach links und kam neben ihr zum Stehen. Nur die Packtaschen hatten sich getroffen, ihre Hinterradtasche war aus der Verankerung gesprungen. Ich blickte auf und sah in ein entsetztes Gesicht. Dann bemerkte auch ich die Bescherung: Mein Vorderrad sah aus wie ein Kartoffelchip, eine solch gewaltige Acht hatte noch nie eines meiner Räder gehabt! Den Effekt kannte ich bislang nur aus der Literatur. Jobst Brandt erläutert in ,,The Bicycle Wheel`` wie es unter bestimmten Umständen zu so einem Kollaps kommen kann, und diese Umstände paßten offenbar sehr gut auf unsere Situation. Ich erinnerte mich, daß man mit sehr, sehr viel Glück das Rad zurückspringen lassen kann, wenn man schnell handelt. Flugs entfernte ich die Taschen vom Rad, brauchte eine Weile um das verbogene Drahtgestell aus der Gabel zu zerren und begriff gleichzeitig, daß der Versuch vergeblich sein würde: Die Felge war gebrochen. Da saßen wir ja schön in der Patsche!

Hildegard hatte inzwischen auch gehandelt. Der Weg, der zwanzig Meter weiter abbog, gehörte zu einem Haus, und dort sah ich sie jetzt mit einer Frau verhandeln. Sie kam mit der Auskunft zurück, daß es in Grästorp eine Fahrradwerkstatt existiere. Wir beschlossen, daß Hildegard dorthin fahren sollte, während ich die verbeulte Felge auszuspeichen begann. Idealerweise sollte sie eine Felge kaufen, wie sie selbst fährt, aber vermutlich wird die Auswahl nicht so groß sein. Ich begann also, die Nippel zu lösen und die Speichen in unbrauchbar und bedingt brauchbar zu sortieren.

Vom Rückenwind getrieben hatte Hildegard im Nu den Ort und auch die kleine Werkstatt erreicht, in der sich tatsächlich jemand für defekte Fahrräder interessierte. Sie wolle eine Felge haben, ,,Am besten so eine,`` deutete sie auf ihr Hinterrad. ,,Aber wieso denn, die ist doch noch völlig in Ordnung`` fragte der Mechaniker entgeistert zurück. Da hatte er natürlich Recht. Hildegard erklärte ihm den Vorfall. ,,Wie will denn Ihr Freund die Felge auf offener Straße einspeichen¿` erkundigte er sich. Das sei nicht ihr Problem, wischte Hildegard die Frage beiseite. Ob sie bei der Größe wirklich sicher sei, zweifelte der Experte immer noch, denn die meisten Leute kauften 26er-Felgen. Hildegard beharrte auf ihrem Wunsch. Er kletterte auf seinen Dachboden und trotz langen Suchens fand er keine Felge in der gewünschten Größe, von der Marke ganz zu schweigen. Schließlich kam er mit einer anderen Idee zurück. Ein Kunde hätte kürzlich ein Rad gekauft und Geräusche in der Vorderradnabe reklamiert. Man hätte das zwar nicht nachvollziehen können, aber der Kunde hätte erst mit einem völlig neuen Vorderrad Ruhe gegeben. Das alte Rad sei nun zwei Wochen gelaufen, und er würde es uns für 200 Kronen überlassen. Für unsere Wunschfelge hätten wir hier bestimmt umgerechnet 60 DM bezahlen müssen, da ist ein komplettes Rad mit Schnellspanner für rund 50 DM ein gutes Angebot, zumal wir sowieso keine Wahl hatten. Hildegard fiel die Entscheidung also leicht, und bald war sie wieder unterwegs, nur etwas langsamer im Gegenwind.

Die Speichen lagen gerade in Reih und Glied, und ich hoffte sehr, daß ihre Länge auch zur erwarteten Felge passen oder aber ein kompletter neuer Satz dabei sein würde, als Hildegard in den Weg einbog. Ich war sehr erleichtert. Mit so einem Komplettrad würden wir in einer halben Stunde wieder unterwegs sein. Während Hildegard sich mit der Bewohnerin des Hauses unterhielt, zog ich, beobachtet von zwei Katzen und der zweijährigen Tochter des Hauses, den Reifen auf, justierte die Bremse, setzte den Magneten für den Tachometer um und sortierte die verstreuten Ersatzteile und Werkzeuge in ihre Behälter. Nebenbei verfolgte ich das recht interessante Gespräch. Unsere Helferin war Dänin, hatte hier ihren Freund kennengelernt und war zu ihm gezogen. Mit Dänisch und Schwedisch hatte sie genug zu tun, weswegen die englischen Worte etwas stockend kamen. Die Dänen hatten vor dreihundert Jahren dieses Dorf verwüstet, erklärte sie uns, weswegen man ihr manchmal mit Mißtrauen begegne. Ansonsten sei es aber schön, und sie lebe gern hier.

Nun hatte ich ein neues Problem: Meine Hände waren kohlrabenschwarz von dem Aluminiumabrieb und der Schmiere. Selbstverständlich könne ich ihr Waschbecken benutzen, lud mich die Frau ein. Ich kam in ein kleines Bad, in dem Wäschestapel zeigten, daß man hier wirklich lebte und nicht nur seine Wohnung vorführte. Das Wasser plätscherte nahe des Waschbeckenrandes aus dem kurzen Hahn, und als die Haut meiner Hände wieder sichtbar wurde, bemerkte ich entsetzt, daß ich dem Waschbecken einen großen schwarzen Fleck verpaßt hatte. Ich versuchte, die Stelle sauber zu reiben und vergrößerte dadurch die schwarze Fläche auf das Doppelte. Er glänzte jetzt wunderbar, und ließ sich mit Seife nicht mehr beseitigen. Ich fing an, mir wie Loriot in seinen Sketchen vorzukommen. Ich wollte aber nicht die Wohnung nach geeigneten Reinigungsmitteln durchsuchen. Ich trat mit sauberen Händen, aber schlechtem Gewissen aus dem Haus und beichtete mein Mißgeschick. ,,Ach, das macht überhaupt nichts! Mein Mann baut Autos, der ganze Hof steht voll davon, acht Stück insgesamt, wenn der abends aufhört, ist das Waschbecken auch immer schmutzig`` tröstete mich die freundliche Dänin. ,,Wir haben noch ein zweites Problem,`` fuhr ich fort, denn Nabe und Speichen hatte ich eingepackt, nicht aber die gebrochene Felge. ,,Das nehme ich, bei uns gibt es auch dauernd alte Teile`` erwiderte sie und griff zu. ,,Jetzt haben Sie auch schwarze Hände,`` stellte ich erschrocken fest. Sie schaute auf ihre Handflächen, lachte und meinte, daß sie nun ihrem Mann auch zeigen könne, wie sie heute gearbeitet habe. Ich vermute, daß die freundliche Frau so dankbar über diese Abwechslung in ihrem Tagesablauf war, daß sie über die kleinen Mißgeschicke tatsächlich leichten Herzens hinwegsah. ,,Don't watch the airplanes`` verabschiedete sie uns.

Auf dem Hunneberg Die Panne hatte uns letztendlich nur eineinhalb Stunden gekostet. Ich horchte auf den nächsten Kilometern aufmerksam nach vorn, konnte aber kein verdächtiges Geräusch bemerken. Es war höchste Zeit für eine Essenspause, denn schon zum Zeitpunkt unseres Unfalles waren wir auf der Suche nach einem Rastplatz gewesen. Nun lag der Hunneberg vor uns, ein weiterer Tafelberg. Wie ein Blumenkübel auf Kopfsteinpflaster erhob er sich über die kleinen Hügel ringsum. Nahezu senkrecht ragen die Wände rund 100 m in die Höhe. Oben befindet sich ein Naturreservat, in dem auch viele Elche leben sollten. Wir kämpften uns die steile Straße empor, getrieben von dem Gedanken an eine baldige Rast. Es fand sich auch ein Plätzchen inmitten von Bäumen und Felsen mit herrlichem Ausblick, und ich wuchtete sogleich mein Rad über die Klippen zu der Stelle. Hildegard machte mich darauf aufmerksam, daß 10 Meter weiter oben ein Tisch mit Bänken stände. Tatsächlich, und dort führte sogar ein Weg hin, auf dem man das Fahrrad nicht über Felsen schleppen muß. Während Hildegard also ihr Rad auf zivilisierte Weise zu unserem Rastplatz führte, begann ich, den Kocher aufzubauen. Eine Viertelstunde später saßen wir bei einer Pfifferlingssuppe auf der Bank, sahen unter uns winzig Autos und Züge entlangkriechen und fühlten uns sehr wohl.

Gesättigt bogen wir in die Waldwege des Naturreservates ein. Die Landschaft der letzten Tage schien hier komprimiert zu sein. Waldstücke wechselten in schnellem Rhythmus mit Mooren, Lichtungen oder Wiesen. Außer Vögeln und gelegentlich einer Schnecke waren aber kaum Vertreter der Fauna zu sehen. Es war, als ob die Tiere dieses Gebiet meiden würden, um sich nicht bestaunen zu lassen. Ein See mit spiegelglatten Wasser lockte zu einer weiteren Pause. Als wir eine unter Bäumen am Ufer stehende Bank erreichten, kamen wir zwei älteren Frauen, weit entfernt noch, zuvor. Diskret schwenkten sie ab und überließen uns unserer romantischen Stimmung. Als sie sich später von der anderen Seite erneut näherten, hatte auch uns die Unruhe wieder gepackt, und wir gaben den begehrten Platz frei.

Wir kamen an die andere Seite des Tafelberges und konnten nun die nächsten Kilometer unserer Tour überblicken. Im Tal glitzerte und räkelte sich Trollhättan wie eine riesige Qualle auf dem Gelb der Felder. In dieser Industriestadt sollte sich also unser Zeltplatz befinden? Unsere Lust, diese ruhigen Wälder gegen eine lärmende Campingsiedlung einzutauschen, sank. Eigentlich müßte sich doch hier oben auch ein geeignetes Plätzchen finden lassen! Wir fuhren ein Stück am Rand des Berges entlang und bogen erneut ins Innere des Reservates ab. Wie so oft wurde die praktische Umsetzung der Idee von diversen Schwierigkeiten begleitet: Die erste Stelle war sumpfig, die zweite bestand bei näherer Betrachtung nur aus Felsen, die dritte schien nur auf den ersten Blick eben zu sein. Dann aber zeigte sich hinter einem kleinen Felsplateau eine Schneise mit frischem Gras auf trockenem Untergrund. Unweit rauschte ein Bach, und der nächste Ameisenhaufen war auch mindestens acht Meter entfernt. Das war es! Im Nu stand unser Zelt, welches im Dämmerlicht dank seiner grünen Farbe kaum auszumachen war. Der Bach strömte bräunliches Sumpfwasser mit enormer Kraft vorbei. Wo kam hier oben so viel Wasser her? Wir wuschen uns und krochen ins Zelt. Die Mücken standen am Gazefenster schon Schlange, es gelang uns aber, sie draußen zu lassen. Gegen Morgen zogen sie sich dann frustriert zurück. Die nächste Ameisenstraße führte zwar knapp am Zelt vorbei, aber die Tiere liefen ihre gewohnten Bahnen und verschonten uns mit ihren Besuchen. Wir glitten in eine ruhige, warme Nacht, in der nur die gelegentlichen Rufe eines Kauzes oder das Rascheln eines Igels zu hören waren.



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Ralph Sontag, Hildegard Geisler