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Zum Götakanal

Mittwoch, 1.7.1998: Hjo - Mariestadt, 95.4 km

Frühstück in Hjo Wir begannen den Tag zu Fuß und schoben unsere Räder durch den direkt am Seeufer gelegenen Park ins Stadtzentrum. Um den Park herum drängten sich Altersheim, Kindergarten, Schwimmbad, Campingplatz und Kneipen, wodurch eine Mindestbesucherzahl gesichert wurde. Zu unserer Freude stand die Tür der Räucherei bereits offen. Wir hatten noch nicht gefrühstückt und suchten uns jetzt einen frischgeräucherten Fisch aus, den wir mit einem schnellen Einkauf in der Konsumkaufhalle zu einem reichhaltigen Frühstück ergänzten. Gleich an der Mole stand neben einer alten Hafenbahn ein Tisch mit Bänken. Zwischen Schiffen und Waggons saßen wir in der Sonne und ließen es uns schmecken. Als jedoch die ersten Touristen auftauchten und uns an unserem Tisch zu fotografieren begannen, packten wir gesättigt wieder zusammen.

Hjo bietet dem Besucher das freundliche Ambiente einer beschaulichen Kleinstadt, in der sich die Bewohner kennen. Die jenseits des Hafens gelegenen Gassen und Plätze mit ihren vielfarbigen Holzhäusern boten dem Auge reiche Nahrung. Kleine Durchgänge führten auf grobgepflasterte Innenhöfe, manche mit gemütlichen Cafés oder Antiquitätengeschäften, manche nur für die Bewohner. Auf dem Marktplatz schwitzten einige Gemüsehändler in der heißen Sonne. Wir wollten nicht zu lange herumschlendern. Ein letzter Blick auf die größte Erle Schwedens, dann saßen wir wieder im Sattel.

Bis Tibro nutzten wir große Straßen und kamen schnell voran. Tibro verdankt seinen Möbelfabriken eine gewisse Bekanntheit. Wir fuhren direkt an einer riesigen Ikea-Fabrik vorbei, vor der die Arbeiter in der Sonne saßen und fröhlich winkten. Kurz darauf schwenkten wir auf kleine Straßen ab, die kleinsten, die die Karte verzeichnet, und die in unserer Begriffswelt eher Wege sind. Sie schlängelten sich ein Stück am Ufer eines kleinen Flusses entlang, weiter durch schattige Wälder und über heidekrautbewachsene Wiesen. Hildegard deutete an den Wegrand: ,,Dort stehen Steinpilze¡` Tatsächlich, eine ganze Menge sogar! Wir entschieden uns für eine abendliche Pilzmahlzeit und sammelten eine ausreichende Menge ein. Kaum wieder im Sattel, entdeckte ich linkerhand etwas Leuchtendes: ,,Dort stehen Pfifferlinge.`` Die passen auch noch dazu. Während Hildegard die Pilze freilegte, hatte ich mit dem Abschneiden zu tun. Unser Beutel war nun gut gefüllt, wir entschieden, keine anderen Sorten mehr mitzunehmen und auch nicht wegen einzelner Exemplare anzuhalten.

Eigentlich hätten wir jetzt eine Pause nötig, doch die Vielzahl der Ameisenhaufen links und rechts machten den Waldboden als Pausenplatz nicht sehr attraktiv. Drei Kilometer vor dem Etappenziel Tåtorp wollten wir dann auch nicht mehr anhalten, und als wir endlich vor einer der Schleusen des Götakanals standen, waren wir 50 km durchgefahren. Dafür wurden wir während des Essens auch mit der Vorführung der Schleuse belohnt, weil zwei Yachten in den Viken wollten.

Der Götakanal wurde im vergangenen Jahrhundert unter gewaltigen Anstrengungen von 60000 Soldaten erbaut. Ausgeklügelte Schleusensysteme ermöglichen es den Schiffen, von der Nordsee kommend, über Vännern- und Vätternsee nach oben zu klettern und schließlich wieder zur Ostsee hinunter zu fahren. In unserem Jahrhundert hat die Eisenbahn einen Großteil der Transporte übernommen, der Kanal wird aber rege von den Yachten der Touristen und Ausflugsdampfern genutzt. Der alte Treidelpfad wurde zum Radweg, und nun wollten wir gleich vielen anderen Radwanderern ein Stück an der alten Wasserstraße entlangfahren.

Schon die ersten Meter zeigten, daß wir einen ungünstigen Zeitpunkt gewählt hatten. Statt des schmalen Pfades fuhren wir auf lockerer, mit Steinen durchmischter Erde. Etwas zwischen einem Rasenmäher und einer Egge mußte vor kurzem das Unkraut auf dem Pfad beseitigt und die Löcher und Buckel eingeebnet haben. Wenn nun eine Walze die Oberfläche verfestigen würde, hätte man einen prachtvollen Weg. Einige Reifenspuren zeigten jedoch, daß diese Arbeit wohl von den nächsten Radtouristen selbst geleistet werden mußte. Nachdem uns einige Gruppen, teilweise sogar mit Anhängern, entgegengekommen waren, stieg die Qualität bereits an. Als wir dann Teilstücke erreichten, die der Bearbeitung entgangen waren, fuhr es sich endlich wieder richtig gut.

Mich faszinierten die Schiebebrücken. Aufklappende Brücken und Drehbrücken sah ich schon oft, doch Brücken, die auf die Straße zurückgeschoben werden, wenn ein Schiff kommt, waren mir neu. Einige davon wurden per Videokamera aus der Ferne gesteuert. Ebenso beeindruckend war eine mehrstufige Schleusenanlage. Am späten Nachmittag ließ der Schiffsverkehr stark nach, und wir sahen kaum eines der 4000 Boote, die jährlich auf dem Kanal unterwegs sind.

In Hajstorp verließen wir den gemütlichen Treidelpfad und wandten uns Mariestadt zu. Wir fanden den Campingplatz und erreichten ihn gemeinsam mit einem kräftigen Regenguß von erfreulich kurzer Dauer. Wie üblich standen in der Rezeption Prospektständer mit umfassenden Informationen in Schwedisch, Englisch und Deutsch. Wir hatten uns schon daran gewöhnt, bunte Hefte vorzufinden, die in ausgezeichnetem Deutsch die Touristen zum längeren Verweilen animieren sollen. Diesmal fanden wir noch ein kleines, gelbliches Heftchen mit viel Text und einigen wenigen Tuschezeichnungen, welches in auffallend schlichtem Layout die Schönheiten Mariestadts anpries. Die vorgeschlagenen Tagesausflüge klangen sehr einladend. Außerdem gefiel uns der Campingplatz auf der Landzunge inmitten eines Waldes auf den ersten Blick. Praktisch eingerichtete Küchen, die Nähe zum See und die lockere Besiedlung ohne strenge Aufteilung in Stellplätze ließen uns Mariestadt als gute Basis für einen mehrtägigen Aufenthalt vormerken.

Nach den leckeren Pfifferlingen und Steinpilzen schlenderten wir ans Seeufer. Es war kurz vor Mitternacht. Rote Wolken am Horizont warfen ein letztes Licht auf die wie Blei schimmernde Wasserfläche. Im Dämmerlicht beobachteten wir zwei Silhouetten, die Fahrräder ins Wasser schoben, um Erde und Lehm abzuwaschen. ,,Das könnte der Unterschied zwischen Reiseradlern und Mountainbikern sein``, kommentierte Hildegard die Szene. ,,Bei uns kommt das Wasser immer von oben, und wir sind froh, wenn die Räder trocken sind.``



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Ralph Sontag, Hildegard Geisler