Unser Reiseführer versprach uns einen guten Radweg, der aus der Industriestadt hinausführen sollte. Leicht zu finden gelangten wir auf ihm nach Bankerryd, wo die Wegweisung gerade dann ungenau wurde, als wir uns etwas von der Fernverkehrsstraße entfernt hatten. Als uns plötzlich die Sonne ins Gesicht schien und sich zur linken eine weite Wasserfläche dehnte, war klar, daß wir in eine Falle getappt waren. Wir kehrten um und fanden auf der großen Straße zuverlässige Wegweiser, die uns den Weg nach Norden wiesen. Bald konnten wir nach links abbiegen, wo hinter einem steilen Berg Habos Kirche zu finden sein sollte.
Die Sucht der Schweden, möglichst einsame, abgelegene Häuser zu bewohnen, führt dazu, daß sie auch die Kirche aus dem Dorf verbannen. Allenthalben stößt man auf Ortsnamen, denen ein ,,k:a`` angefügt ist. Das steht für ,,kyrka`` und bedeutet, daß hier die Kirche des zugehörigen Ortes zu finden ist. In diesem Fall lagen zwischen Habo und seiner Kirche drei Kilometer Wald, die wir in einem schnell zunehmenden Regenschauer auf Erdstraßen zurücklegten. Hastig stellten wir unsere Räder ab und flüchteten in die trockene Wärme des hölzernen Bauwerks. Der erste Blick zeigte sofort, wie sehr sich der kleine Umweg gelohnt hatte: Obwohl aus Holz bestehend, war die Kirche im 17. Jahrhundert nach den Prinzipien einer Kathedrale erbaut worden und dadurch einzigartig. Prächtige, aber nicht überladene Gemälde an allen Wänden erklärten die biblische Geschichte. Der Innenraum war streng getrennt in Plätze für den Adel, Bürger, Bauern und ganz hinten für das Gesinde des Pfarrhofes, wobei Frauen und Männer in ihre jeweilige Hälfte, rechts oder links geschickt wurden. Deutschsprachige Hefte halfen uns, die Details der Konstruktion zu entdecken.
Im Nachbarhaus -- diese Kirche hatte immerhin eine Handvoll Häuser um sich herum versammeln können -- fand just in dieser Woche ein ,,Kirchenkaffee`` statt. Gestärkt mit selbstgebackenem Kuchen, belegten Brötchen und einigen Tassen Kaffee traten wir wieder in die Pedale. Die Straße am Wasser entlang bietet zwar schöne Ausblicke auf den See, ist aber so stark befahren, daß wir die kleinen Wege im ,,Hinterland`` bevorzugten. Meilensteine bewiesen, daß diese Route schon seit Jahrhunderten benutzt wird. Allerdings fand ich ausschließlich Steine mit Aufschriften ,,½ Mil.`` und ,,¼ Mil.``, wodurch das System etwas undurchschaubar erscheint. Da die schwedische Meile, wie ich auf einer alten Karte sah, um die 5 km lang ist, stimmte der Abstand der Steine mit einem reichlichen Kilometer durchaus, aber mitzählen mußten die alten Fuhrleute offenbar selbst.
Durch die Bäume vor dem Wind geschützt, kamen wir schnell vorwärts. So schwenkten wir ohne Zögern auf eine kleine Straße ein, die zwar etwas länger war, dafür aber durch unbesiedelte Gegenden führen sollte. Hildegards Packtasche paßte das nicht, sie wehrte sich durch Abwerfen einer Schraube gegen diese Entscheidung. Das war rasch repariert, und wir fuhren weiter auf einen wunderbaren Regenbogen zu. Die Straße wurde zum Erdweg und teilweise so schmal, daß sie vermutlich selbst auf 1:50000er-Karten in Deutschland nicht aufgetaucht wäre. Lange Zeit schon hatten wir kein Haus mehr gesehen, als Hildegard plötzlich aufgeregt in den Wald deutete: Da stand er, der Elch, das Wahrzeichen Skandinaviens! Ein riesiges Tier, nur wenige Meter neben uns, betrachtete aufmerksam unsere Räder. Offenbar kannte er die Technik schon, denn er verlor das Interesse an uns eher als wir an ihm und stolzierte erhobenen Geweihs mit graziösen Schritten davon. Daß so ein massiges Tier so elegant laufen kann, ist immer wieder ein Wunder. Nach etwa Hundert Metern weckte ein Baum sein Interesse und er begann ihn gelassen zu untersuchen, zog dann aber weiter, und wir verloren ihn aus den Augen. Aufgeregt und glücklich fuhren wir weiter.
Hjo kündigten die Prospekte als Stadt an, in der man sich mit einem Stadtplan aus dem 17. Jahrhundert zurechtfinden kann und die über ausgezeichnete Fischräuchereien verfügt. Das klang höchst verlockend, und der Gedanke an einen guten Fisch zum Abendessen wurde durch regelmäßige Hinweise auf Angelplätze wachgehalten. Doch die Räuchereien hatten schon längst geschlossen, verlassen lag der Hafen mit seinen Yachten in der Dämmerung. Trotzdem gaben wir nicht auf, und in einer bis 23 Uhr geöffneten Konsumkaufhalle (Was mag der alte Stadtplan hier zeigen?) fanden wir tatsächlich frischen Fisch.
Wir fuhren eilig zum Campingplatz, denn die Dunkelheit begann mit Macht hereinzubrechen. An der Rezeption prangte zwischen den Empfehlungen verschiedener Autoclubs auch das Signet des Niederländischen Campingverbandes ANWB. Auf diesen Hinweis kann man sich getrost verlassen, und wir sahen auch gleich rundherum die gelben Nummerschilder unseres Nachbarlandes. Während ich das Zelt aufbaute, zog Hildegard mit dem Fisch in die Küche. Nach wenigen Minuten war ich fertig und half ihr. Im Nachbargebäude war der Fernsehraum untergebracht. Erwartungsgemäß lief Fußball. Während die deutschen Camper vor ihren Kofferfernsehern in den Zelten saßen und im schwarzweißen Geflimmere Einzelheiten zu erhaschen suchten, waren die Niederländer nahezu geschlossen in den Fernsehraum gezogen, sahen das gestochen scharfe Bild des norwegischen Fernsehens und machten sich ihre Kommentare selbst. Wir aßen zunächst unser extrem spätes, dafür aber höchst schmackhaftes Fisch-Kartoffel-Salat-Abendessen, dann setzten wir uns dazu, um das Ende der zweiten Halbzeit England -- Argentinien mitzuerleben. Ich habe wenig Ahnung von Fußball, aber als den Engländern ein paar schöne Abgaben und präzise Zuspiele gelangen, freute ich mich über die sportliche Leistung. Sofort drehten sich einige Köpfe zu mir um. Da lag ich wohl etwas neben der allgemeinen Meinung .... Schließlich war auch das Elfmeterschießen vorüber, die Leute verließen gähnend den Saal, und mit dem letzten Gast kamen wir ein wenig ins Gespräch, Hildegard spricht perfekt niederländisch, ich kann diese Sprache mitunter halbwegs verstehen. Wir tauschten die üblichen Floskeln über Herkunft, Urlaubsziel, Erlebnisse und Vorhaben aus. ,,Was seid Ihr nur für Menschen: seid Deutsche, sprecht Niederländisch und jubelt für England`` verabschiedete sich der Niederländer schließlich. ,,Europäer eben.`` murmelte ich in die sich schließende Tür.