Lehre in Leerräumen – Leere in Lehrräumen
Erfahrungen aus zwei Semestern Corona-Lehre
Prolog
Es gehört zu den unschönen Vorstellungen einer Lehrkraft, dass zur angesetzten Vorlesungszeit kein einziger Student im Hörsaal erscheint. Glücklicherweise kommt dieser Zustand nur sehr selten vor (obgleich er erfahrungsgemäß auch nicht völlig ausgeschlossen ist). In den zurückliegenden beiden Semestern jedoch war genau dieser Zustand eher die Regel als die Ausnahme. Die Vorlesungen waren in den digitalen Raum verlagert, wie es immer wieder formuliert wurde. Konkret bedeutete das für mich als Lehrkraft: Ich stand allein im Hörsaal (auf dessen Ausstattung ich angewiesen war), während die Studenten daheim vor ihrem Computer saßen. Für den letzten Teil dieser Aussage kann ich keine Gewähr geben. Natürlich kann ich nicht wissen, ob die Studenten tatsächlich daheim waren oder irgendwo anders. Genauso wenig kann ich wissen, ob sie tatsächlich saßen oder vielleicht doch standen (warum sollten sie das tun?) oder lagen (was angesichts der Zeit Montag 9:15 Uhr nicht völlig auszuschließen ist).
Nach zwei Semestern Corona-Lehre haben sich viele Abläufe eingespielt, die noch vor einem Jahr nur schwer vorstellbar waren. Diese Entwicklung will ich aus meiner ganz subjektiven Perspektive noch einmal nachvollziehen.
Zur Person: Vorlesungsassistent
An dieser Stelle muss ich mich entschuldigen, dass ich mich noch gar nicht vorgestellt habe. Gestatten: Herbert Schletter, Physiker und Vorlesungsassistent. Und um die nächste Frage gleich vorweg zu nehmen: Nein, als Vorlesungsassistent bin ich nicht der Tafelwischer für den Dozenten. Diese Tätigkeit wäre durch die Online-Vorlesungen ohnehin obsolet geworden.
Zu den Vorlesungen im Fach Experimentalphysik gehören auch die namensgebenden Experimente, die in den Vorlesungen vorgeführt werden. Neben der physikalischen Wissensvermittlung bieten sie auch eine Auflockerung im Vorlesungsgeschehen. Als Vorlesungsassistent bin ich mit der Pflege dieser Experimente (der sogenannten „Vorlesungssammlung”) beauftragt, baue Versuche auf und führe sie in den Vorlesungen vor. Und natürlich gehört auch der Abbau und das Verstauen der Aufbauten nach erfolgter Vorführung zu meinen Aufgaben.
Mit der Verlagerung der Vorlesungen ins Online-Format kam eine neue Aufgabe hinzu: Die Experimente sollten nun nicht nur im Hörsaal vorgeführt werden, sondern auch während der Online-Vorlesung live via Internet präsentiert werden. Denn tatsächlich wollten viele Dozenten auch online nicht auf Live-Experimente verzichten.
Zur Sache: Live-Experimente
Warum zeigt man in der Webkonferenz-Vorlesung nicht einfach ein Video? Auf den bekannten Videoplattformen existieren genug hochwertige Versuchsvideos. Mein Hauptargument für die Live-Vorführung klingt beinahe wie ein Gegenargument: Live-Experimente können auch schiefgehen. Und manchmal tun sie das auch. Das ist immer etwas peinlich für mich. Meistens jedoch funktionieren Sie einwandfrei. Den etwas hämischen Spruch „Physik ist das, was nie gelingt" kann ich in meinen Experimenten nicht bestätigen. Und gerade diese Tatsache, dass die Versuche eben doch in den allermeisten Fällen so ablaufen wie vorgesehen, zeigt die Allgemeingültigkeit der physikalischen Gesetze. Im Video funktionieren die Experimente immer. Wie viele erfolglose Versuche unternommen wurden, bevor das Experiment einmal geklappt hat, wird dort in aller Regel nicht erwähnt.
Auf ein weiteres Argument für die Live-Vorführung von Experimenten hat mich ein Kollege aufmerksam gemacht: Wir zeigen mit den Vorlesungsversuchen nicht nur physikalische Effekte, sondern demonstrieren gleichzeitig auch eine physikalische Arbeitsweise. Natürlich unterscheidet sich das Experimentieren im Hörsaal von der Arbeit im Labor. Einen Eindruck unserer Vorgehensweise erhalten die Studenten trotzdem – ungeschnitten und in voller Länge.
1. Akt: Sommersemester 2020
Der Corona-Modus beginnt
Ich hatte gerade Urlaub, als der Corona-Modus begann. Ganz überraschend kam es freilich nicht. Im März 2020 wurden beinahe täglich neue Verordnungen erlassen, die die Vorgaben des Vortags schon wieder außer Kraft setzten. Die Auswirkungen auf die TU waren nur eine Frage der Zeit. Sie kamen in Form eines Stand-by-Betriebs, der für mich (wie für die meisten Beschäftigten) mobile Arbeit (umgangssprachlich Home-Office, was jedoch offiziell nicht dasselbe ist) bedeutete. Um nach meinem Urlaub ausreichend mit Arbeit versorgt zu sein, besuchte ich meinen Arbeitsplatz am letzten Tag vor dem Stand-by-Betrieb noch einmal und holte mir Laptop, Kamera und Unterlagen nach Hause. Ein wenig seltsam war das Gefühl schon, „meine” Vorlesungssammlung auf unbestimmte Zeit zu verlassen. Angst vor Langeweile brauchte ich indessen nicht zu haben. Als Vorlesungsassistent und Bereichsstundenplaner, der ich außerdem noch bin, gibt es genügend Aufgaben, die sich auch am heimischen Computer bearbeiten lassen. In mancher Hinsicht zeichnete es sich positiv ab, dass dafür jetzt mehr Zeit zur Verfügung stehen konnte.
Die ersten Wochen Vorlesungszeit
Als der Stand-by der TU beschlossen wurde, hatte die Vorlesungszeit des Sommersemesters noch nicht begonnen. Die Auswirkungen auf den Vorlesungsbetrieb waren jedoch offensichtlich: Es konnten zunächst keinerlei Lehrveranstaltungen in Präsenz stattfinden. Als Vorlesungsassistent war ich damit außen vor. Am heimischen Computer kann ich zwar viele Aufgaben erledigen. Das Vorführen von Experimenten gehört jedoch nicht dazu. Und da ich selbst keine eigene Lehrveranstaltung in diesem Semester hatte, konnte ich dem Beginn der Vorlesungszeit recht entspannt entgegensehen. Andere schwitzten da wesentlich mehr, wie ich den (Online-) Gesprächen mit einem Kollegen entnehmen konnte, der sich auf Online-Vorlesung und Online-Seminar vorbereiten musste.
Im vorangegangenen Satz taucht das Wort „Online” recht häufig auf. Überhaupt schien in den ersten Wochen des Sommersemesters 2020 dieses Wort alles zu beherrschen. Sonst traf sich unsere Arbeitsgruppe in der Kaffeeecke zur Besprechung - jetzt trafen wir uns online; für den Kaffee war jeder selbst zuständig. Wenn ich bisher mit einem Kollegen etwas zu besprechen hatte, machte ich mich auf den Weg in dessen Büro oder Labor (ein paar Schritte tun gut nach der Computerarbeit) - jetzt hatte ich online ein "Virtuelles Büro" in BigBlueButton, wo wir uns trafen, ohne vorherigen Fußweg. Ein klein wenig Wehmut angesichts dieser Wandlung sei mir erlaubt.
Mittlerweile hat man sich an die Häufigkeit des Wortes „Online” gewöhnt. Vielleicht verwendet man es auch nicht mehr so häufig, weil allen klar ist, dass Besprechungen (und alles andere) online stattfinden.
Zurück zu den Vorlesungen: In den ersten Wochen des Sommersemesters 2020 konnte ich als Vorlesungsassistent also wenig beitragen und widmete mich anderen Aufgaben, deren es ausreichend gab. Vereinzelt besuchte ich die (Online-) Vorlesungen von Kollegen und kommentierte Versuchsvideos, die dort gezeigt wurden. Insgeheim hoffte ich dabei, dass ich auch bald wieder selbst experimentieren darf. Das liegt dem Experimentalphysiker nun einmal im Blut. Und schließlich sollte dieser Wunsch in Erfüllung gehen...
Zurück in die Sammlung
Ende April 2020 wurden die ersten (vorsichtigen) Lockerungen des Stand-by-Betriebs angekündigt. Damit sollten ab Mai auch vereinzelt Lehrveranstaltungen wieder in Präsenz stattfinden können. Angesichts der weiterhin angespannten Infektionslage waren die Regelungen immer noch recht restriktiv. Eine Präsenzvorlesung wurde von mir auch gar nicht angestrebt. Stattdessen beantragte ich (in Rücksprache mit den betreffenden Lehrkräften) nur für mich allein die Nutzung des Physikhörsaals, um von dort aus Live-Experimente in den Online-Vorlesungen zu zeigen. Das wurde dann auch genehmigt. Und so konnte ich nach etwa anderthalb Monaten Abstinenz wieder in die Vorlesungssammlung kommen und dort experimentieren.
Zuvor waren jedoch auch die Voraussetzungen zu schaffen, um die Experimente in die Online-Vorlesungen einzubinden. Mit Kameratechnik ist die Sammlung recht gut ausgerüstet. Schließlich werden auch in reinen Präsenzvorlesungen die Experimente häufig über Beamer und Leinwand gezeigt, damit sie von allen Plätzen zu erkennen sind. Was fehlte (weil es bisher nicht gebraucht wurde), war die Schnittstelle zwischen Kamera und dem Laptop, auf dem die Webkonferenz lief. Glücklicherweise hatten ein Kollege und ich uns in den Wochen vor dem ersten Lockdown mit Videoaufnahme am Laptop beschäftigt und dabei Technik vom TV-Studio der TU ausgeliehen. So konnte ich jetzt auf diese Erfahrungen zurückgreifen. Also wurde ein HDMI-USB-Interface beschafft (später kam ein zweites dazu) und die notwendige Software auf dem jüngsten Laptop der Vorlesungssammlung installiert. Beim Anschluss von Bild und Ton half die audiovisuelle Technik der TU mit, und dann konnte es losgehen. Bei den ersten Vorlesungen liefen die Vorbereitungen zum Teil noch nach dem Versuch-und-Irrtum-Prinzip ab. Zum Vorlesungsbeginn stand der Aufbau schließlich, und was davor war, müssen weder die Studenten noch der Dozent im Detail erfahren.
Es waren wohl etwa zwei Wochen Vorlaufzeit zwischen der Genehmigung, im Hörsaal zu experimentieren, und der ersten Vorlesung mit Live-Experimenten. In dieser Zeit also musste die beschriebene Infrastruktur aufgebaut werden. Einen Einfluss auf mein Vorgehen hatte auch der Bericht eines Kollegen einer anderen Einrichtung. Die Vorlesungsassistenten verschiedener Hochschulen stehen über eine Mailingliste in Kontakt. Im Sommersemester 2020 beherrschte natürlich das Thema Onlinelehre die Diskussion. Die Anzahl der täglichen E-Mails erreichte in diesen Wochen einen Höchststand. Unter anderem berichtete ein Kollege, er habe sich ein bestimmtes HDMI-USB-Interface angeschafft und wolle uns in Kürze über seine Tests unterrichten. Diese fielen dann aber durchaus durchwachsen aus, da längst nicht alles wie gewünscht funktionierte. Vielleicht hat sich das auch negativer in mein Gedächtnis eingebrannt, als es tatsächlich war. In jedem Fall beschloss ich daraufhin, dass gerade nicht die Zeit wäre, mit der Videotechnik zu experimentieren. Ich brauchte eine Lösung, wo ich mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen konnte, dass alles zuverlässig funktioniert. Schließlich sollte an einer Technischen Universität der Name auch für die Lehrausstattung Programm sein.
Der Rest des Sommersemesters verlief dann nach diesem Schema. Ich versorgte zwei wöchentliche Vorlesungen mit Live-Experimenten. Für eine weitere vierzehntägliche Vorlesung, die weitgehend asynchron stattfand, drehte ich einige Versuchsvideos. Der Aufbau der Technik lief dabei immer reibungsloser ab. Dabei lief beim Aufbau der Experimente im Hörsaal durchaus manches anders als in den Semestern davor. Bisher hatte ich immer darauf geachtet, dass die Versuchsaufbauten vom Auditorium aus gut zu sehen waren. Das spielte jetzt keine Rolle, denn dort saß ohnehin niemand. Der neue Bezugspunkt war jetzt der Tisch mit Laptop für die Online-Vorlesung. Mit maximal 5 Meter HDMI-Kabel musste ich jede Kamera erreichen können. Und so verbaute ich also den Blick auf die Tafeln, die Experimente verdeckten sich gegenseitig (aus Sicht des Auditoriums), eine Projektionstafel stand mitten im Raum und so weiter. Wenn wir in Präsenz zurückkehren, sollte ich mir diesen Aufbaustil wieder abgewöhnen.
Allein im Hörsaal
In diesen Wochen erschien mir das Hörsaalgebäude als der coronasicherste Ort schlechthin. Die meiste Zeit hätte man die im Gebäude befindlichen Personen an einer Hand abzählen können. Das Risiko, hier jemandem zu begegnen (etwa gar näher als 1,5 Meter) ging gegen Null. Etwas gewöhnungsbedürftig ist das schon, das große Foyer so menschenleer zu sehen. Ganz neu war mir dieser Anblick allerdings auch nicht. Ich kannte ihn schon lange aus den vorlesungsfreien Zeiten. Neu hingegen war für mich die Leere im Hörsaal. Sonst war ich es gewohnt, eine mehr oder weniger unruhige Menge an Studenten vor mir zu sehen. Jetzt war es beinahe erschreckend still. Ich redete laut und ausdrucksstark wie sonst auch - allerdings redete ich jetzt auf eine Kamera ein, die sichtlich ungerührt blieb von meinen Ausführungen. Das unmittelbare Feedback von den Studenten habe ich in den Online-Vorlesungen immer ein wenig vermisst.
Dabei hat das Online-Format auch ganz pragmatische Vorteile. Sobald ich einen Versuch abgeschlossen hatte, und der Dozent wieder die Vorlesung übernahm, konnte ich auch schon mit dem Abbau beginnen. Mitunter waren bereits vor Ende der Vorlesung alle Versuche wieder im Schrank verstaut. Eine Leistung, die in Präsenz nur schwer zu erreichen sein wird. Außerdem bekam ich mehr von der Vorlesung mit als zuvor. In den „normalen” Präsenzvorlesungen blieb ich in der Sammlung (direkt angrenzend an den Physikhörsaal) und war dort beschäftigt. Auf ein Klingelsignal hin ging ich in den Hörsaal und führte die Experimente vor. Was der Dozent zuvor bereits erklärt hatte, konnte ich nicht wissen. Jetzt hatte ich permanent den Ton der Vorlesung an und konnte so die Ausführungen des Dozenten mitverfolgen. Allerdings war auch eine erhöhte Aufmerksamkeit gefordert, denn es gab jetzt kein Klingelsignal mehr. Ich musste soweit der Vorlesung folgen, dass ich erkannte, wenn der Dozent mich ansprach und um das nächste Experiment bat. Wenn ich dann gerade weit weg vom Laptop in der Sammlung war um den vorherigen Versuch wegzuräumen, verpasste ich meinen Einsatz. Hier war dann das Improvisationstalent des Dozenten gefragt. Und so sehen wir auch hier, dass das Onlineformat auch ganz unerwartete Anforderungen an die Lehrkraft stellt.
Intermezzo: vorlesungsfreie Zeit
Zu den grundsätzlichen Fragen, die einem Vorlesungsassistenten gestellt werden, gehört auch diese: „Was machst du eigentlich in der vorlesungsfreien Zeit?” Als Verantwortlicher für ca. 30 Schränke voller Versuchsaufbauten bekommt man ganz sicher keine Langeweile, auch wenn gerade keine Vorlesungen stattfinden. Umfangreichere Arbeiten (größere Reparaturen, Neukonzeption von Versuchen und so weiter) lassen sich überhaupt nur in der vorlesungsfreien Zeit umsetzen. Diesmal aber kam zu den „normalen” Aufgaben für die vorlesungsfreie Zeit noch eine besondere Herausforderung dazu.
Ein sehr realer Online-Raum
Als die Vorlesungszeit im Juli 2020 endete, wäre eine konkrete Voraussage über das kommende Wintersemester reine Spekulation gewesen. Klar war, dass es wieder eine Mischung aus Präsenz- und Online-Lehrveranstaltungen geben sollte. Der tatsächliche Umfang, in dem diese beiden Formate angeboten werden könnten, konnte jedoch erst bei Kenntnis der Infektionslage festgelegt und gegebenenfalls geändert werden (was er im Laufe des Wintersemesters tatsächlich auch mehrfach wurde). Nun, die Vorlesungssammlung war sowohl für Präsenz- als auch Online-Vorlesungen vorbereitet. Trotzdem stand jetzt eine neue Frage im Raum. Und zwar nicht in irgendeinem Raum, sondern im Physikhörsaal. Bisher konnte ich für meine Live-Experimente oder zum Videodreh jederzeit in den Physikhörsaal, da dieser (zumindest in den für mich relevanten Zeiten) keine Präsenz beherbergte. Mit der Ankündigung, im Wintersemester mehr Vorlesungen als bisher in Präsenz stattfinden zu lassen, konnte ich nicht mehr von dieser für mich so komfortablen Situation ausgehen. Konkreter: Ich wollte gar nicht erst versuchen, den Physikhörsaal für die Durchführung einer Online-Vorlesung zu beanspruchen. Da ich auch Bereichsstundenplaner des Instituts für Physik bin, kenne ich (bis zu einem gewissen Grad) die Schwierigkeit, allen (Präsenz-) Lehrveranstaltungen einen passenden Raum zuzuweisen. Deshalb sah ich von einem entsprechenden Antrag auf Nutzung des Physikhörsaals ohne Studenten von vornherein ab. Außerdem wollte ich die gute Zusammenarbeit mit der Zentralen Stundenplanung nicht unnötig belasten.
Ich brauchte also neben dem virtuellen Raum, in dem die Vorlesung stattfinden könnte, einen ganz realen Raum, in dem ich experimentieren konnte. Da das Home-Office dafür aus verständlichen Gründen nicht in Frage kam, blieb nur die Vorlesungssammlung selbst. Dort war allerdings keine ausreichend große Freifläche, auf der ich Versuche hätte vorführen und filmen können. Der allergrößte Teil dieses Raums wird von Schränken eingenommen, in denen die Versuchsaufbauten schlummern. Dann gibt es noch die Stellfläche für die Experimentiertische und an einer Seite meinen Schreibtisch. Auf letzteren kann ich nicht verzichten. Ebenso wenig kann ich die Tische aus der Sammlung verbannen. Schließlich müssen die aufgebauten Versuche ja irgendwo stehen. Und alles direkt auf den Fußboden aufzubauen, ist nicht gerade praktikabel. Also musste ich an die Schränke ran.
Mir war bewusst, dass es bei den Schränken ausreichend Potenzial zur Reduktion gab. Dort hatten sich im Laufe von Jahrzehnten mancherlei Dinge angesammelt, die nicht mehr des Aufhebens bedurften (und das teilweise auch schon seit Längerem). Die Bezeichnung Vorlesungssammlung war wohl mitunter zu wörtlich genommen worden. Aus diesem Grund hatte ich mir eine Bereinigung der Schrankinhalte schon seit Jahren vorgenommen. Genauso bewusst war mir auch, dass diese Bereinigung nicht gerade einfach werden würde. Aus diesem Grund hatte ich sie bisher noch nicht konsequent begonnen. Nun stand eine Reduktion der Schränke nicht mehr als Option, sondern als Notwendigkeit vor mir. In den Schränken musste nicht nur aussortiert werden. Die verbliebenen Gegenstände mussten auch so neu verteilt werden, dass am Ende einige Schränke komplett leer blieben. Und idealerweise sollte ich nach Abschluss dieses Prozesses alle Versuchsaufbauten noch wiederfinden können.
Es vergingen einige Tage, an denen ich die Inhalte zahlreicher Schränke entweder in Müllsäcke stopfte oder zu einem neuen Platz transportierte. Am Ende hatte ich tatsächlich den Zustand erreicht, dass in den drei Schrankzeilen jeweils die vordersten Schränke und einige weitere Regale komplett leer waren und auf ihren Abtransport Richtung Sperrmüll warteten. Letzteres übernahmen die Hausmeister, wofür ich an dieser Stelle noch einmal danken möchte.
Beim Abbau der Schränke selbst war ich nicht zugegen. Ich befand mich - ganz coronakonform - im Home-Office (das in meinem Fall eigentlich mobile Arbeit ist). Man möge sich meine Überraschung vorstellen, als ich das nächste Mal in die Sammlung kam. Seit acht Jahren arbeite ich in diesem Raum. Und an jedem Morgen bot sich mir dasselbe Bild beim Eintreten: Im dämmrigen Licht der Fluchtwegbeleuchtung standen die Stirnseiten von drei Schrankzeilen vor mir. Diesmal betrat ich den Raum und blickte in eine Leere, die mir im Vergleich zu vorher endlos erschien.
An den neuen Anblick habe ich mich schnell gewöhnt. Er gefällt mir auch besser als der vorherige. Vor allem habe ich jetzt von meinem Schreibtisch aus die Tür im Blick, was durchaus von Vorteil ist, wenn unerwartet jemand eintritt...
Weihnachten steht vor der Tür
Zu den alljährlichen Aufgaben in der vorlesungsfreien Zeit des Sommersemesters gehört auch die Planung der Weihnachtsvorlesung. Seit Jahrzehnten schon lädt das Institut für Physik jedes Jahr kurz vor Weihnachten zu einem öffentlichen Experimentalvortrag ein. Für den Vorlesungsassistenten war dies immer auch eine Gelegenheit, die eigenen Lieblingsversuche, die in den regulären Vorlesungen manchmal etwas zu kurz kommen, zu präsentieren. Auch (oder vielleicht gerade) im Corona-Jahr wollten wir unserem Publikum dieses Spektakel nicht vorenthalten. Zugleich erschien es uns aber zu optimistisch, eine Präsenzveranstaltung mit vollbesetztem Hörsaal zu planen.
Die Alternatividee besprach ich zunächst mit dem Kollegen, mit dem ich unsere Weihnachtsvorlesung in den letzten Jahren immer gehalten hatte. Nachdem dieser dem Vorschlag zugestimmt hatte (was er sehr spontan tat), wandten wir uns an die Chemiker und Mathematiker, die ebenfalls traditionell eine Weihnachtsvorlesung gehalten hatten. Schließlich baten wir das Rechenzentrum und den Bereich Öffentlichkeitsarbeit um Unterstützung bei der Realisierung unserer Idee. Gemeinsam entstand dann der erste Wissenschaftliche Adventskalender der TU Chemnitz, der 24 Videos aus unseren Fachbereichen enthielt. Die weitere Entwicklung der Infektionslage und die damit einhergehenden Einschränkungen gaben uns schließlich Recht in unserem Vorgehen.
Da wir unsere Videos bereits in der vorlesungsfreien Zeit gedreht hatten und Ende November alles hochgeladen und verlinkt war, verlief der Dezember in der Sammlung diesmal etwas weniger stressig als in den Vorjahren. Was mir bei alldem jedoch gefehlt hat, ist die Interaktion mit dem Publikum. Wieder einmal konnten wir nur auf eine ziemlich teilnahmslose Kamera einreden. Echte Hörsaalatmosphäre lässt sich eben (leider) nicht virtuell erzeugen.
2. Akt: Wintersemester 2020/2021
Eine neue Herausforderung
Mit dem Näherrücken der Vorlesungszeit des Wintersemesters wurden auch die Planungen für die Vorlesungsdurchführung konkreter. Es sollten möglichst viele Veranstaltungen für das erste Studienjahr in Präsenz stattfinden. Die meisten Physik-Grundlagenvorlesungen, in die ich involviert bin, fallen in das erste Studienjahr. Entsprechend war für viele „meiner” Vorlesungen Präsenz genehmigt worden. Gleichzeitig mussten im Hörsaal aber die Mindestabstände von 1,5 Metern eingehalten werden, wodurch sich das Platzangebot des Physikhörsaals von 258 auf 34 reduzierte. Vorlesungen mit mehr Teilnehmern mussten entweder vollständig digital oder hybrid durchgeführt werden.
Nach dem vorangegangenen Semester hatte ich sowohl mit Präsenz- als auch Digitalvorlesungen Erfahrung und fühlte mich in beiden Varianten sicher. Man sollte meinen, dass es dann nur ein kleiner Schritt hin zur hybriden Vorlesung ist, die für die anwesenden (maximal 34) Studenten in Präsenz gehalten und gleichzeitig online übertragen wird. Aber dem war nicht so. Ich hatte oben schon einmal die unterschiedlichen Konzepte beim Aufbau der Experimente im Hörsaal angesprochen. Nun musste ich also so aufbauen, dass jeder Versuch sowohl vom Auditorium aus gut erkennbar war als auch vernünftig mit einer Kamera eingefangen werden konnte. Hinzu kamen noch Schwierigkeiten mit der Medientechnik des Hörsaals, die sich einer uneingeschränkten Zusammenarbeit mit meiner (noch einmal neu beschafften) Videoausstattung widersetzte. Das Alter der Hörsaalanlage mag da wohl eine Rolle gespielt haben. Bei allen Lobeshymnen auf die Digitalisierung, die man hin und wieder hört, sollte der Aspekt der erforderlichen Ausrüstung im Hörsaal nicht vergessen werden...
Schließlich fanden wir eine Lösung, die ganz sicher nicht elegant war, aber immerhin die Minimalvoraussetzung für eine hybride Veranstaltung lieferte. Die Vorlesungszeit konnte also beginnen.
Präsenz, digital, hybrid – für jede Vorlesung das passende Format
Nachdem ich ein ganzes Semester lang nur im leeren Hörsaal agiert hatte, war es durchaus etwas Besonderes, wieder vor einem Präsenzpublikum zu stehen und die Vorlesung direkt vor den real anwesenden Studenten zu halten. Schon aus diesem Grund erwartete ich den Vorlesungsstart im Herbst 2020 mit größerer Spannung als in anderen Jahren. Hinzu kam noch die Frage, wie gut sich unser technisches Setup für die verschiedenen Vorlesungsformate tatsächlich bewähren wird. Und noch ein dritter Punkt sorgte bei den Dozenten für Spannung: Die Lehrkräfte sollten in Ihren Vorlesungen auch auf die Einhaltung der Coronaregeln achten. Wie sollten wir auf Studenten reagieren, die sich nicht an die Vorgaben halten?
In allen drei Punkten kam ich mit meinen Kollegen sehr schnell zu einem positiven Fazit. Die Vorlesung vor einem real anwesenden Auditorium entwickelt eine angenehmere Dynamik als ein Monolog vor der Kamera. Auch das technische Konzept für die Vorlesungsübertragung bewährte sich. Und wir mussten in keinem Fall auf Verstöße gegen die Sicherheitsvorgaben reagieren. In der Coronapandemie wurde gelegentlich ein mangelndes Verantwortungsbewusstsein der jüngeren Generation beklagt. In meinen Lehrveranstaltungen konnte ich dies nicht wiederfinden.
Auf meinem persönlichen Stundenplan befanden sich in diesem Semester insgesamt neun Vorlesungen. Eine davon hielt ich selbst als Vorlesender, die anderen acht begleitete ich als Vorlesungsassistent. Von diesen neun Vorlesungen fanden zu Semesterbeginn vier vollständig in Präsenz statt, was aufgrund der Teilnehmerzahl möglich war. Drei Vorlesungen wurden im hybriden Format angeboten und zwei wurden ausschließlich online durchgeführt. Bei den letzteren führte ich die Vorlesungsexperimente von der Sammlung aus vor, da tatsächlich parallel dazu eine Vorlesung im Physikhörsaal stattfand.
Meine Vorausschau hatte sich also als richtig erwiesen. Überhaupt waren in dieser ganzen Zeit des Öfteren Wahrsagequalitäten gefragt: Alle versuchten vorherzusehen, wie die Situation in ein, zwei oder auch sechs Monaten sein würde, um sich darauf vorzubereiten und die Voraussetzungen zu schaffen, damit auch dann ein möglichst reibungsloser Lehrbetrieb (neben vielem anderen) möglich sein wird. Ich hatte mich in der vorlesungsfreien Zeit des Sommers auch schon mit der Durchführung von Online-Tests beschäftigt – aus Interesse und weil man ja nie wissen kann, was noch kommt. Auch dies erwies sich im weiteren Verlauf des Wintersemesters als vorteilhaft, doch dazu später mehr.
Wie in den Jahren zuvor hielt ich auch in diesem Wintersemester eine Vorlesung selbst. Dabei übernahm ein Kollege die Rolle des Vorlesungsassistenten und führte Versuche vor. Diese Aufgabenteilung verschafft dem jeweiligen Vorlesenden (in diesem Fall also mir) die eine oder andere Verschnaufpause im Vorlesungsverlauf. Außerdem kann sich der Assistent so voll und ganz auf die Experimente konzentrieren. Und auch bei den Studenten hilft es der Konzentration, zwischendurch eine andere Stimme zu hören. Man könnte dieses Vorgehen also ganz modern als Win-Win-Win-Situation bezeichnen. (Diesen Ausdruck finde ich jedoch so schrecklich, dass ich den Satz wieder gestrichen habe.)
Zurück zur Online-Lehre
Allzu lange währte diese Situation auch nicht. Die Infektionszahlen stiegen im Herbst 2020 immer weiter an. Anfang November kam schließlich der Beschluss, dass nur noch die Lehrveranstaltungen in Präsenz stattfinden dürfen, bei denen eine Online-Durchführung nicht möglich ist. Die meisten Vorlesungen meines Stundenplans fielen daher zurück in das digitale Format. Man kann diese Entwicklung aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Aus Sicht der Unileitung und des Corona-Krisenstabs war diese Entscheidung sicherlich keineswegs leicht, ab einem gewissen Punkt aber auch nahezu unausweichlich. Aus didaktischer Sicht war die Umstellung sicher nicht ideal, gerade da sie ja zumeist Erstsemestervorlesungen betraf. Der Übergang von der Schule, deren Lehrbetrieb sehr eng organisiert ist, zur Universität fällt nicht allen Erstsemestern leicht. Die Distanz der Online-Lehre hilft nicht gerade dabei, solche Übergangsschwierigkeiten zu überwinden. Aus meiner persönlichen Sicht zog ich dann letztendlich auch die Konsequenz für meine eigene Vorlesung: Um persönliche Kontakte weitestgehend zu vermeiden, verzichtete ich auf meinen Kollegen als Vorlesungsassistenten und führte alle Experimente selbst vor. So war ich also (meistens) wieder ganz allein in Hörsaal und Sammlung.
Aus technischer Sicht wiederum war die Umstellung von Präsenz (beziehungsweise hybrid) auf ein reines Online-Format keine neue Herausforderung. Mittlerweile hatten sich die Abläufe für alle Formate und mit allen Vorlesenden so eingespielt, dass nirgendwo grundsätzliche Probleme auftraten. Natürlich lernte auch ich immer noch dazu, insbesondere durch Rückmeldungen von Studenten. Denn selbst wenn ich mein Kamerabild auf dem Laptop kontrollierte, konnte ich nicht wissen, in welcher Qualität dieses Bild bei den Studenten ankommt. Schnelle Bewegungsabläufe waren beispielsweise immer problematisch, da sie leicht durch kurze „Ruckler” im Video gestört wurden.
Ich möchte daher unsere technische Umsetzung gar nicht als perfekt bezeichnen. Manches ließe sich sicher noch verbessern. Manche Schwierigkeit bei der Online-Übertragung lässt sich vielleicht auch nicht völlig beseitigen. Trotzdem sehe ich mich bei der Live-Übertragung der Versuche oder ganzer Vorlesungen aus dem Physikhörsaal auf einem sehr guten Weg. Bestätigt wurde dies auch durch die Rückmeldung eines Studenten im Laufe des Wintersemesters, der uns (meinem Kollegen als Vorlesenden und mir als Assistenten) eine Reihe sehr konstruktiver Vorschläge zur Verbesserung der Online-Qualität machte. Gleichzeitig betonte dieser Student auch, dass unsere Vorlesung zu den wenigen gehört, bei denen das Hybridformat tatsächlich gut funktioniert. Das hat uns in dem von uns betriebenen Aufwand sehr bestätigt. Umgekehrt offenbart diese Formulierung auch, dass eine gute Hybridvorlesung keineswegs ein Selbstläufer ist.
Noch eine Episode aus dem Wintersemester möchte ich hier wiedergeben: Zu den schönen Traditionen im Hörsaal gehört es, dass auch für den Vorlesungsassistenten geklopft wird, wenn er einen Versuch vorgeführt hat. Im Online-Format lässt sich das natürlich nicht in dieser Form übernehmen. In der Hauptfachvorlesung Physik hatte es sich eingebürgert, dass immer einige Studenten dann in der Videokonferenz ein einfaches "klopf" in den Chat schrieben. Ich habe mich über diese Geste sehr gefreut. Das klingt vielleicht ein wenig naiv, aber gerade in der Zeit, als ich wochenlang kaum einmal einen Kollegen oder Studenten persönlich zu Gesicht bekam, war dies eine gute Bestätigung und Motivation für meine Arbeit.
Licht und Dunkel
Tatsächlich wurde mir meine Abgeschiedenheit in der Vorlesungssammlung mit dem Fortschreiten des Semesters langsam schwer. Da jetzt ein Großteil der Vorlesungen nur noch online stattfand, verbrachte ich nahezu meine gesamte Arbeitszeit allein in der Sammlung. Der Aufbau der Experimente dort hatte den Vorteil, dass ich bereits am Vortag Versuchstische und Kameras einrichten konnte. Und so nutzte ich den Hörsaal nur noch dann, wenn aufgrund der Menge oder Größe der Versuchsaufbauten der Platz in der Sammlung nicht ausreichte. Dadurch gestalteten sich meine Arbeitsabläufe effizienter. Allerdings sah ich so auch weniger Tageslicht. Die Sammlung befindet sich mitten im Gebäude und besitzt keine Fenster. Im Winter bedeutete dies, dass ich morgens im Dunkeln in die Sammlung ging, die ich tagsüber nur für den Gang zur Toilette verließ. Der Heimweg nach acht Stunden Arbeitszeit fand dann schon wieder im Dunkeln statt.
Für eine Woche oder zwei störte mich diese Situation nicht. Irgendwann wollte ich sie dann aber nicht mehr hinnehmen. Während ich bis dahin immer den ganzen Tag in der Sammlung zugebracht hatte und auch alle Computerarbeit dort erledigt hatte, trennte ich jetzt die unmittelbare Versuchsvorbereitung und -durchführung von den „Bürotätigkeiten”. Erstere erledigte ich natürlich weiterhin in der Sammlung beziehungsweise im Hörsaal. Danach fuhr ich (im Hellen!) nach Hause und erledigte Computerarbeiten am heimischen Arbeitsplatz, zu dem auch einige Sonnenstrahlen durchs Fenster schienen. Vor der Coronazeit hätte ich mir nicht vorstellen können, welche Erleichterung dieses Vorgehen bedeutet.
So ging schließlich auch die Vorlesungszeit des Wintersemesters ihrem Ende entgegen. Und auch diesmal konnte ich am Ende für meine Tätigkeit ein positives Fazit ziehen. Abhaken konnte ich dieses Semester damit aber noch nicht. Es wartete noch eine besondere Prüfung auf mich – im wahrsten Sinne des Wortes…
Finale furioso: Prüfungszeit
Wieder einmal waren Wahrsagequalitäten gefragt: Schließlich mussten Rahmenbedingungen für die Durchführung von Prüfungen festgelegt werden. Und das möglichst frühzeitig, um sowohl Studenten als auch Prüfern Planungssicherheit und eine ausreichende Vorbereitungszeit zu ermöglichen. Die Unileitung veröffentlichte bereits Ende November – und damit ca. 10 Wochen vor Beginn der Prüfungszeit – die Entscheidung, dass Prüfungen grundsätzlich digital stattfinden sollen. Diesen Schritt kann ich nur als mutig bezeichnen, geschah er doch zu einer Zeit, in der unsere Politiker noch davon sprachen, dass die Weihnachtsfeiertage weitgehend ohne Beschränkungen verlaufen sollen. Im November mag diese Entscheidung tatsächlich auch recht pessimistisch geklungen haben und allenfalls durch die geforderte Planungssicherheit gerechtfertigt erschienen sein. Der weitere Verlauf des Infektionsgeschehens und der damit einhergehenden Einschränkungen bestätigten schließlich jedoch den eingeschlagenen Weg. So langsam frage ich mich, wer aus dem Krisenstab heimlich als Wahrsager arbeitet, um diese Entwicklungen vorherzusehen.
Für mich bedeutete dies also die Vorbereitung einer Online-Prüfung. Ich beantragte auch gar nicht erst die Durchführung einer Präsenzprüfung. Ich weiß nicht, wie groß die Chancen auf eine Genehmigung gewesen wären. Nachdem allerdings einem Kollegen eine Prüfung in Präsenz genehmigt wurde, bereute ich es beinahe, es nicht versucht zu haben. Andererseits war ich durchaus der Meinung, dass eine Online-Durchführung grundsätzlich möglich und praktikabel ist, obgleich der Umstieg vom Präsenzformat der vergangenen Jahre sicher einen beachtlichen Aufwand bedeutet. Jetzt aber hatten mich Neugier und Ehrgeiz gepackt: Ich wollte herausfinden, wie ich eine Online-Prüfung realisieren konnte. Die lange Vorlaufzeit bot dafür beste Voraussetzungen.
Organisatorischer Rahmen
Zur Vorbereitung meiner Online-Prüfung musste ich zwei grundsätzliche Aspekte berücksichtigen: zum einen den organisatorischen Rahmen und zum anderen den Inhalt der Prüfung. Der erste Aspekt kann durchaus vielfältige Entscheidungen enthalten. Viele davon wurden mir jedoch abgenommen, da unsere Universität einen Rahmen für die Durchführung von Online-Prüfungen vorgab und auch die dafür benötigte Infrastruktur bereitstellte. So musste ich mich nicht mit der Frage nach der geeigneten Prüfungsplattform oder der Realisierung der Prüfungsaufsicht beschäftigen. Hier verließ ich mich ganz und gar auf die vorgeschlagene Verfahrensweise. Immerhin war diese samt ihrer technischen Realisierung schon einem Praxistest unterzogen worden. Bereits im Sommersemester wurden in größerem Umfang Online-Prüfungen durchgeführt. Damals blieb ich davon unberührt, da ich keine Prüfung durchzuführen hatte. Jetzt aber konnte ich von den Erfahrungen des vergangenen Semesters nur profitieren.
Das Anwenden der zentral vorgeschlagenen Verfahrensweise nahm mir auch in einem weiteren Punkt eine Menge Sorgen ab: Stichwort Datenschutz. Solange ich mich an die Durchführungshinweise hielt, konnte ich auch ganz beruhigt davon ausgehen, dass meine Prüfung datenschutzkonform abläuft.
Auf diese Weise musste ich den organisatorischen Rahmen für meine Prüfung lediglich umsetzen, nicht aber eigens aufstellen. Das war ein sehr wichtiger Punkt für mich. Schließlich habe ich als Prüfer noch einen anderen Aspekt, um den ich mich kümmern muss, und den mir niemand so einfach abnehmen kann (und auch nicht soll): den Inhalt der Prüfung.
Neue Fragen für ein neues Format
Ich hatte schon manchmal mit der Erstellung von Online-Tests herumexperimentiert. Nun aber wurde es ernst. Am Ende des Semesters musste eine Online-Prüfung entstehen, die trotz des geänderten Formats mit den Klausuren der vorangegangenen Jahre vergleichbar sein sollte.
Zunächst stand eine ganz grundsätzliche Frage im Raum: Wie sollte die Beantwortung der Fragen ablaufen? Ich beschloss meine Prüfung komplett aus Fragen aufzubauen, die direkt online beantwortet werden können. Eine Kollegin wählte einen anderen Weg: in ihrer Prüfung wurden die Lösungen mancher Aufgaben klassisch auf Papier erarbeitet und anschließend eingescannt. Auf diese Weise konnte man den Studenten die Eingabe von Formeln am Computer ersparen, was besagte Kollegin als problematisch einschätzte. Ich wiederum war skeptisch, ob die Qualität der eingescannten Seiten bei dieser Vorgehensweise ausreichend gut sein würde und wie mit unscharfen oder unleserlichen Scans umgegangen werden sollte. Am Ende konnten wir beide für unsere Herangehensweise ein positives Fazit ziehen.
Bis es soweit war, gab es allerdings noch einiges zu tun. Nach der Entscheidung für das Prüfungsformat mussten Fragen formuliert werden. Die Fragestellungen der vergangenen Jahre ließen sich nicht ohne Weiteres übernehmen, da sie auf (mehr oder weniger ausführliche) Text- oder Formelangaben abzielten. Meine Prüfungen bestanden immer aus (verbalen) Verständnisfragen und Berechnungsaufgaben. Das sollte auch so bleiben. Für beide Aufgabentypen musste ich nun geeignete Fragenformate finden.
An einer Beispielaufgabe testete ich die verschiedenen Fragenformate der Prüfungsplattform im Kollegenkreis. Dabei kristallisierte sich recht schnell heraus, dass nur einige wenige Formate für eine Prüfung tatsächlich in Frage kommen. In jedem Fall wollte ich auf längere Texteingaben verzichten, da diese am Computer meist deutlich länger dauern als handschriftlich. Das Beherrschen des blinden Zehn-Finger-Tippens wollte ich nicht zur Voraussetzung meiner Prüfung machen.
Die Verständnisfragen entstanden deshalb fast ausschließlich im Multiple-Choice-Format. Die Schwierigkeit bei der Erstellung solcher Fragen liegt nicht in der Fragestellung selbst und auch nicht in den korrekten Antworten. Herausfordernd ist die Formulierung eindeutig falscher Antworten, die trotzdem so sinnvoll klingen, dass sie nicht auf den ersten Blick „enttarnt” werden. Auch hier half mir die lange Vorbereitungszeit. Ich konnte die Fragen parallel zum behandelten Stoff der Vorlesung formulieren, mit Kollegen diskutieren und überarbeiten. Von diesen Möglichkeiten machte ich durchaus regen Gebrauch.
Auch für die Berechnungsaufgaben, auf die ich auch in der Online-Prüfung nicht verzichten wollte, testete ich verschiedene Formate. Zunächst versuchte ich Formate anzuwenden, bei denen keine Formeleingabe erforderlich war, sondern lediglich aus einer Menge vorgegebener Formeln die richtigen auszuwählen (und gegebenenfalls zu sortieren) waren. Aber alle diese Aufgabenstellungen wurden der physikalischen Arbeitsweise, die sich darin widerspiegeln sollte, nicht gerecht. Am Ende baute ich die Berechnungsaufgaben also so auf, dass die Prüflinge ihren Rechenweg in Formeln eingeben mussten.
Ich habe in meinem Leben als Physiker schon hinreichend viele Formeln am Computer geschrieben und kenne den damit verbundenen Aufwand. Für meine Prüfung bedeutete dies, dass die notwendigen Berechnungen „geradlinig” ohne komplexe Zwischenschritte ausführbar sein sollten. Auf diese Weise blieb die Anforderung auch in diesem Bereich auf einem Niveau, das man in einer Physikprüfung durchaus rechtfertigen kann. Darüber hinaus waren wir bei der Korrektur dieser Aufgaben großzügig: Solange wir die Aussage der Formel erkennen konnten, wurde sie auch entsprechend bewertet, selbst wenn die Formulierung eine eher ungewöhnliche Kreation darstellte.
Es wird ernst
Am Ende der Vorlesungszeit war ich in einer sehr komfortablen Situation: Es hatten sich im Lauf des Semesters tatsächlich mehr Aufgaben angesammelt, als tatsächlich für die Prüfung benötigt wurden. So konnte ich mir die besten Fragen für die Prüfung aussuchen. Einige Aufgaben, die es nicht in die finale Auswahl geschafft hatten, nutzte ich für einen Testlauf der Prüfung, zu dem ich alle Studenten meiner Vorlesung eingeladen hatte und der auch gut besucht war. Außerdem konnte ich mir jetzt die Freiheit nehmen, einige Aufgaben, die nicht gut gelungen waren, wieder zu löschen. Sie hatten ihre Schuldigkeit getan und konnten gehen (frei nach Schiller).
So ging ich also bestens ausgerüstet auf den Prüfungstermin zu: ich hatte eine gute Auswahl an Prüfungsfragen, dazu alle Hinweise zur Nutzung der Prüfungsplattform und der Online-Prüfungsaufsicht plus die (insgesamt positiven) Erfahrungen aus dem Testlauf. Trotzdem erinnerte mich die Aufregung, die mich am Prüfungstag erfasste, ein wenig an die Zeit, als ich selbst Prüfling war.
Wir trafen uns zu dritt zur Prüfungsaufsicht in der Vorlesungssammlung. Jeder von uns sollte etwa zwölf Studenten via Webcam beaufsichtigen. Die Vorbereitung ging zäh, aber das kannten wir schon aus dem Testlauf. Die Studenten mussten nacheinander alle einen Kameraschwenk durchs Zimmer machen um zu zeigen, dass sie dort allein sind. Außerdem mussten alle Studentenausweise über die Webcams kontrolliert werden. Der Prüfungsablauf selbst war für uns als Prüfungsaufsicht dann entspannter. Wir saßen – mit 1,5 m Abstand – jeder vor unserem Laptop und betrachteten die Webcam-Bilder. Die Bandbreite der Gesichtsausdrücke reichte von optimistisch bis verzweifelt. Ein bisschen fehlte mir die Bewegung: Bei einer Präsenzprüfung kann ich immerhin gelegentlich durch die Reihen gehen. Hier war ich jetzt an meinen Platz gebunden. Im Gegenzug konnten wir drei Prüfungsaufseher uns miteinander unterhalten, ohne die Studenten zu stören.
Am Ende kann ich auch bei der Online-Prüfung ein positives Fazit ziehen. Selbstverständlich habe ich auch noch einiges gelernt, was ich beim nächsten Mal (wenn es in einem Jahr wieder eine Online-Prüfung geben sollte) anders machen würde. Wichtig für mich als Prüfer ist, dass für die Studenten kein grundsätzlicher Nachteil aus dem Online-Format entstanden ist. Umgekehrt soll auch keine Übervorteilung entstehen, da dies unfair gegenüber den Studenten anderer Jahrgänge wäre. Beide Anforderungen kann ich aber mit gutem Gewissen abhaken. Die lange Vorlaufzeit in der Vorbereitung, die durch die frühzeitige Festlegung unserer Universitätsleitung entstand, hat in jedem Fall zu diesem positiven Ergebnis beigetragen.
Epilog
Mein Bericht ist nun in der Gegenwart angekommen. Es ist Ende März 2021, als ich diese Zeilen schreibe. Das Sommersemester steht vor der Tür. Wieder soll ein Großteil der Lehrveranstaltungen digital stattfinden. Der tatsächlich mögliche Umfang der Präsenzveranstaltungen wird sich auch in den kommenden Wochen und Monaten nach den Inzidenzwerten richten. Aktuell steigen diese Zahlen wieder deutlich. Für die bevorstehenden Osterfeiertage wurden bereits starke Beschränkungen angekündigt. Von einem normalen Vorlesungsbetrieb sind wir immer noch weit entfernt.
Doch was heißt eigentlich „normal”? Vieles, was vor einem Jahr schwer vorstellbar war und bestenfalls als Notlösung erschien, ist inzwischen zur Normalität geworden. Und so werde ich auch im kommenden Semester häufig allein in Hörsaal oder Sammlung stehen und auf eine Kamera einreden. Das ist nach wie vor ein wenig abstrakt, aber mittlerweile doch normal.
Erst die weitere Entwicklung wird zeigen, welche der jetzt ergriffenen Lehrformen auch nach Wegfall der Coronabeschränkungen beibehalten werden wird. An einigen Stellen wird das Online-Format vermutlich bleiben. An anderen Stellen wünschen sich Lehrkräfte lieber heute als morgen das Präsenzformat zurück. Kein Format kann allen Anforderungen sämtlicher Lehrveranstaltungen gerecht werden. Eine Idealisierung von Digital- oder Präsenzkonzepten ist daher grundsätzlich fehl am Platz. Seit jeher besteht für Lehrkräfte die Herausforderung, verschiedene Methoden und Herangehensweisen zu einem Lehrkonzept zu vereinigen, das sowohl dem Vorlesungsstoff als auch den Studenten und nicht zuletzt auch der Lehrkraft selbst gerecht wird. Das Spektrum der hierfür zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ist in den vergangenen Monaten noch einmal um einige Facetten angewachsen. Für die methodische Vielfalt der Lehre kann dies nur vorteilhaft sein.
Die beiden zurückliegenden „Corona-Semester” haben gezeigt, wie schnell sich neue Lehrkonzepte umsetzen lassen, wenn eine entsprechende Notwendigkeit besteht. Über digitale Lehre (und Prüfungen) wird schon viele Jahre diskutiert. Trotzdem lieferten erst die letzten beiden Semester den Nährboden für eine massenhafte Umsetzung dieser Konzepte. Die Erfahrungen des zurückliegenden Jahres haben aber auch gezeigt, welche spezifischen Probleme mit der Digitalisierung von Lehrveranstaltungen einhergehen – sei es die technische Realisierung oder auch der Mangel an persönlichen Kontakten. Gerade in letzterem Punkt hoffe ich auf Besserung, wenn die Coronabeschränkungen wegfallen.
Bis es soweit ist, wird wohl noch einige Zeit vergehen, in der wir weiterhin digitale oder hybride Vorlesungen gestalten. In diesem Sinn beende ich meinen Rückblick an dieser Stelle und werde jetzt meine Kamera wieder aufbauen. Während der vorlesungsfreien Zeit durfte sie staubgeschützt in ihrer Tasche schlummern. Jetzt brauche ich sie wieder, um ein weiteres Semester lang auf sie einzureden...
Lehre in Leerräumen – Leere in Lehrräumen von Herbert Schletter ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.