Bedarfshalt
Aufgabenstellung
Die Bahnstrecke Chemnitz – Aue wurde Anfang 2022 nach mehrjährigen Sanierungsarbeiten wiedereröffnet. Etwa ein halbes Jahr später wurden bei einer Fahrplanumstellung mehrere Halte auf dieser Strecke in Bedarfshalte umgewandelt. Der Zug hält dort nur noch, wenn Fahrgäste am Bahnsteig warten beziehungsweise wenn Fahrgäste im Zug die Haltewunschtaste betätigen. Andernfalls fährt der Zug an diesen Halten durch.
- Wieviel Zeit lässt sich auf diese Weise einsparen, wenn keine Fahrgäste ein- oder aussteigen wollen?
- Erstellen Sie ein -Diagramm und tragen Sie die Orts-Zeit-Kurven für eine Durchfahrt am Haltepunkt und eine Fahrt mit Halt (ohne Fahrgastwechsel) ein. Markieren Sie, an welcher Stelle die oben gefragte Zeiteinsparung im Diagramm abgelesen werden kann.
- Schätzen Sie ab, welche Kraftstoffeinsparung die Durchfahrt gegenüber einem Halt mit sich bringt.
Lösung via Jupyter Notebook
Als Alternative zur hier angebotenen Musterlösung liegt auch ein Jupyter Notebook vor, mit dem die Berechnungen und auch die Erstellung des Diagramms interaktiv vorgenommen werden können. Voraussetzung ist die Installation von Jupyter auf dem jeweiligen Rechner. Das Jupyter Notebook kann hier heruntergeladen werden.
Lösung Teil 1
Hier sollen zwei Bewegungsabläufe verglichen werden, die für die Betrachtung ein wenig schematisiert dargestellt werden. Zum einen ist dies die Situation an einem regulären Halt, an dem der Zug anhält, ohne dass Fahrgäste ein- oder aussteigen. Zum anderen ist dies die Durchfahrt an einem Bedarfshalt. Zunächst der Ablauf mit Halt:
- Der Zug nähert sich dem Haltepunkt mit der Anfangsgeschwindigkeit (Streckengeschwindigkeit).
- Im Abstand vor dem Haltepunkt (Bremsweg) startet der Fahrer den Bremsvorgang mit der konstanten Verzögerung . Der Abstand ist so gewählt, dass der Zug exakt am Haltepunkt (der hier tatsächlich als ein Punkt aufgefasst wird) zum Stehen kommt.
- Der Zug steht für eine kurze Wartezeit am Haltepunkt still.
- Der Zug beschleunigt mit der konstanten Beschleunigung bis zum Erreichen der Endgeschwindigkeit .
Bei Durchfahrt entsteht folgender Bewegungsablauf:
- Der Zug nähert sich dem Haltepunkt mit der Anfangsgeschwindigkeit (Streckengeschwindigkeit).
- Im Abstand startet der Fahrer den Bremsvorgang mit der konstanten Verzögerung . Der Zug wird jedoch nur auf ein reduzierte Geschwindigkeit abgebremst.
- Der Zug fährt mit der Geschwindigkeit bis zum Haltepunkt.
- Beim Passieren des Haltepunkts startet der Fahrer den Beschleunigungsvorgang mit bis zum Erreichen von .
Wie es bei realen Fragestellungen häufig der Fall ist, sind nicht alle zur Berechnung erforderlichen Größen von vorn herein gegeben. Sie müssen ermittelt bzw. sinnvoll abgeschätzt werden:
- Die Höchstgeschwindigekit auf der Bahnstrecke Chemnitz – Aue beträgt . Die Geschwindigkeiten und mögen diesem Wert entsprechen.
- Die Durchfahrt durch den Haltepunkt erfolge mit .
- Beim Bremsen und Anfahren betrage die Beschleunigung jeweils . (Da Smartphones über einen eingebauten Beschleunigungssensor verfügen, kann mit einer entsprechenden App auch selbst die Beschleunigung während einer Zugfahrt bestimmt werden).
- Die Wartezeit am Haltepunkt wird mit abgeschätzt.
Bei Nutzung des oben erwähnten Jupyter Notebooks können auch andere Werte für diese Größen eingesetzt und die Auswirkung auf das Ergebnis verglichen werden.
Um die Zeiteinsparung zu ermitteln, müssen die Gesamtdauern für beide Bewegungsabläufe ermittelt werden vom Beginn des Bremsvorgangs bis zum Erreichen der Stelle, an der im Falle des Halts die Endgeschwindigkeit erreicht ist.
Bewegungsablauf 1: Halt am Haltepunkt
Größen, die sich speziell auf diesen Vorgang beziehen, werden durch einen zusätzlichen Index 1 gekennzeichnet.
Bremsvorgang
Der Bremsvorgang ist eine gleichmäßig beschleunigte Bewegung mit der . Der Beginn des Bremsvorgangs erfolge bei . Es gelten die bekannten kinematischen Formeln
und
Daraus folgt für die Dauer des Bremsvorgangs (mit )
Da negativ ist, ergibt sich eine positive Zeit. Für den Bremsweg ergibt sich
Wartezeit
Die Wartezeit wurde oben bereits abgeschätzt.
Beschleunigungsvorgang
Der Anfahrvorgang stellt wieder eine gleichmäßig beschleunigte Bewegung dar. Da hier zunächst dieser Vorgang einzeln betrachtet wird (die Ermittlung des Gesamtwegs erfolgt später), muss kein Anfangsweg berücksichtigt werden. Die Anfangsgeschwindigkeit ist Null. Somit gilt
und
Nach der Zeit ist die Geschwindigkeit erreicht:
Dabei wird der Weg
zurückgelegt.
Gesamtdauer & Gesamtweg
Bei Vorgang 1 (Fahrt mit Halt am Haltepunkt) wird der Weg
zwischen Beginn des Bremsvorgangs und Erreichen der Endgeschwindigkeit nach dem Halt zurückgelegt. Dafür wird die Zeit
benötigt.
Bewegungsablauf 2: Durchfahrt am Bedarfshalt
Größen, die sich speziell auf diesen Vorgang beziehen, werden durch einen zusätzlichen Index 2 gekennzeichnet.
Bremsvorgang
Der Bremsvorgang ist eine gleichmäßig beschleunigte Bewegung mit der Verzögerung von der Geschwindigkeit auf , die nach der Zeit erreicht wird. Aus den allgemeinen kinematischen Formeln (s.o.) folgt
und
Durchfahrt
Anschließend fährt der Zug gleichförmig bis zum Haltepunkt, der sich an der Position befindet. Für den Weg
wird die Zeit
benötigt.
Beschleunigungsvorgang
Auch hier liegt eine gleichmäßig beschleunigte Bewegung mit vor. Anfangsgeschwindigkeit ist . Anfangsweg bleibt unberücksichtigt (Ermittlung des Gesamtwegs erfolgt später). Die Beschleunigungsphase endet, wenn erreicht ist. Aus den allgemeinen kinematischen Formeln folgt
und
Weiterfahrt
Zur Bestimmung der Zeitdifferenz muss noch die Weiterfahrt des Zugs bis zur Absolvierung des Gesamtwegs des ersten Vorgangs betrachtet werden. Die Zeitdifferenz bei Erreichen dieses Orts ist die gesuchte Zeiteinsparung. Es wird also der Weg
betrachtet, der mit der Geschwindigkeit zurückgelegt wird. Dafür wird die Zeit
benötigt.
Gesamtdauer und Gesamtstrecke
Die Gesamtstrecke ist identisch zum Bewegungsvorgang 1; andernfalls ließe sich nicht die Zeiteinsparung ermitteln. Die Gesamtzeit des zweiten Vorgangs setzt sich fogendermaßen zusammen:
Zeiteinsparung
Die gesuchte Zeiteinsparung ergibt sich als Differenz der Gesamtzeiten beider Vorgänge:
Lösung Teil 2
Das nachfolgende Diagramm enthält die beiden -Kurven (blaue und grüne Kurve). Zudem ist die Zeiteinsparung gekennzeichnet (rote Linie).
Die Erstellung des Diagramms ist ebenfalls im oben erwähnten Jupyter Notebook enthalten. Für den Zweck dieser Aufgabe ist ein skizziertes Diagramm mit den qualitativen Kurvenverläufen ausreichend. Die quantitativen Achsenbeschriftung sind nicht zwingend erforderlich.
Lösung Teil 3
Die Kraftstoffeinsparung entsteht, da nach der Durchfahrt mit verringerter Geschwindigkeit eine geringere Beschleunigungsarbeit verrichtet werden muss als nach einem Halt. Nach dem Halt muss zum Erreichen der Endgeschwindigkeit die Arbeit
verrichtet werden, wobei die Masse des Triebwagens bezeichnet. Bei Durchfahrt beginnt die Beschleunigung mit der Geschwindigkeit und die erforderliche Arbeit reduziert sich auf
Dies führt zu einer Differenz der mechanischen Arbeit von
Die Beschleunigungarbeit wird vom Motor verrichtet, der hierfür die durch Verbrennung freiwerdende Energie des Diesels nutzt. Letztere wird durch den Heizwert gegeben:
wobei die Dichte von Diesel bezeichnet, da der Heizwert auf die Masse bezogen angegeben wird. Unter Berücksichtigung des Wirkungsgrads des Motors ergibt sich:
Die oben bestimmte Differenz der mechanischen Arbeit entspricht somit einer Verringerung des benötigten Diesels:
Auch hier fehlen zur Berechnung noch einige Größen:
- Auf den Seiten des Verkehrsunternehmens, das den Zugverkehr auf dieser Linie erbringt, findet man Angaben zur Leer- und Nutzmasse der eingesetzten Triebwagen. Davon ausgehend wird angesetzt.
- Der exakte Wirkungsgrad des Motors dieser Fahrzeuge während des Beschleunigungsvorgangs ist unbekannt. Ausgehend von allgemeinen Angaben zu Dieselmotoren wird angesetzt.
- Die Materialkonstanten von Diesel können nachgeschlagen werden: und .
Mit diesen Werten ergibt sich