2 hoch 10 Kilometer durch Norwegen.
Ein Reisetagebuch.

Start

Montag, 5. August 1996, 13 km

Die Stadt war noch nicht völlig erwacht, als sich die schwere Tür des Berliner Mietshauses öffnete und uns beide in den Großstadtmorgen entließ. Wir winkten unseren Freunden, in deren Wohnung wir die Nacht verbracht hatten, noch einmal zu, dann konzentrierten wir uns darauf, die schwer bepackten Räder sicher zum S-Bahnhof Warschauer Straße zu steuern. Für die nächsten drei Wochen war es uns vergönnt, ein Vagabundenleben zu führen. Frohgemut musterten wir die Mitfahrer auf ihrem Weg zur Arbeit, und einige zeigten durch ein Lächeln, daß sie unsere Freude verstehen konnten.

Mit dem Intercity verließen wir die Stadt, genossen den Blick auf sonnenbeschienene Getreidefelder und Wälder. Hamburg. Ab hier ging es mit Regionalexpressen weiter - erst nach Lübeck, dann weiter nach Kiel zur Fähre. So hatte es uns das Fahrplanprogramm herausgesucht. Doch was kam da aus dem Lautsprecher, nach dem Anschluss an den Lübecker Zug? Ein Regionalexpress nach Kiel steht ebenfalls bereit? Wir entschieden binnen Sekunden: Direkt geht's schneller. Also bugsierten wir die Räder jeweils eine Treppe hoch und wieder hinab, fanden den ausgerufenen Zug und in ihm noch einen weiteren Radler, der ebenfalls verblüfft war, eine Direktverbindung zu finden, wo Umwege offeriert wurden. So waren wir zwei Stunden früher als geplant in Kiel. Wer hätte es für möglich gehalten, bei Bahnreisen solche Verfrühungen zu erzielen?

Die gewonnene Zeit kam uns gelegen - konnten wir doch in einer Pizzeria noch ein ordentliches Essen genießen, unsere Lebensmittelvorräte auffüllen und ein wenig durch die uns bisher unbekannte Stadt schlendern. Schließlich war der Moment gekommen, zum Kai zu fahren. Was war das für ein großes Schiff! Ich hatte vergessen, wie imposant diese Fähren wirken, daß da tatsächlich mehrstöckige Häuser im Wasser liegen. Als Radfahrer fuhren wir an den Autoschlangen vorbei, eine steile Rampe hinab und banden unsere Räder samt einigen während der Überfahrt nicht benötigten Taschen im Bauch des Schiffes fest. Unsere Kabine lag, wie wir später feststellten, in gleicher Höhe wie unsere Räder, doch mußten wir, um hinzugelangen, drei Treppen hinauf und wieder hinunterklettern. Das hat man davon, wenn das Ticket möglichst preiswert sein soll.

Die "Prinzessin Ragnhild" war nicht nur von außen beeindruckend. Auch innen empfing uns ein gediegenes Ambiente. Wir erforschten das Schiff und waren uns bald einig, daß bei diesem Wetter die schönsten Plätze ganz oben im Freien sind. Doch vorher mußten wir noch etwas erledigen, denn diese Fähren sind berühmt für ihr skandinavisches Buffet, und die kürzeste Wartezeit hat man bei der Vorbestellung, wenn man 10 Minuten vor Öffnung des Schalters dort ist. So lautete der Tip eines Freundes, der sich voll und ganz bestätigte. Voller Vorfreude auf das lukullische Abendmahl genossen wir die Sonne auf dem Oberdeck, ließen uns vom Wind zerzausen und beobachteten Land und Meer. Fahrstuhlfahren sollte man allerdings auf diesen Schiffen nicht - offenbar bereiten einigen Mitmenschen schon die einfachsten Tastaturen unüberwindliche Schwierigkeiten. Wenn schon mal nur die wirklich nötigen und nicht alle Etagen angewählt wurden, so fand sich gewiß ein netter Mensch, der - wenn sich die Türen nicht schnell genug schlossen - den "Tür-auf"-Knopf drückte.

Erwartungsvoll betraten wir einige Stunden später das Restaurant und wurden sofort zu unserem Tisch geführt. Das Herz des Feinschmeckers begann schneller zu klopfen, wenn er sah, was dort alles für die hungrigen Mägen bereit lag und auch ununterbrochen neu aufgefüllt wurde. Feinster Räucherlachs, Kaviar in Bergen, zarter Sild in mehreren Variationen, Heilbutt und andere geräucherte Fische, Krabben und Remoulade - um nur einen Teil der kalten Fischvorspeisen zu nennen. Es folgten die kalten Fleisch- und die warmen Gerichte, bevor das Festmahl mit umfangreichen Desserts seinen Abschluß fand. Den Rest des Weines nahmen wir mit in die Kabine, wo wir satt und zufrieden in unsere Betten sanken.

Beim Einschlafen dachte ich noch einmal an die beiden Radler, die uns in Kiel auf dem Bahnhof entgegengekommen waren. "Oh, Ihr wollt nach Norwegen? Hoffentlich habt Ihr genug Regensachen mit!" lautete ihre Begrüßung. Ob wir jetzt auch durch tage- vielleicht sogar wochenlangen Regen fahren würden?

Oslo beschnuppern

Dienstag, 6. August 1996, 39 km

Es war schon merkwürdig, in absoluter Finsternis zu erwachen. Jegliches Zeitgefühl war mir abhanden gekommen, und ich begann darüber nachzudenken, welche Strafe doch die Dunkelhaft sein muß. Auch an die Opfer der Estonia dachte ich, die in dieser Dunkelheit von der Katastrophe überrascht wurden.

Aber als dann das Licht brannte, waren diese Überlegungen schnell beiseite geschoben. Ein Blick auf die Uhr verriet uns, daß wir bereits im Oslofjord sein könnten. Als wir das Deck erreichten, zogen bereits die ersten Berge an den Seiten des Schiffes vorbei. Das war also das Land, das uns für die nächsten Wochen beherbergen sollte! Berge, Berge, Berge. Und Inseln. Ich war begeistert - aber auch ein wenig besorgt, wie in dieser Topographie die Straßen aussehen mögen.

Wir wollten das Deck gar nicht mehr verlassen, so schön war es. Ein nötiger Filmwechsel zwang mich zu einem kurzen Besuch der Kabine, dann blieb ich oben - bis zum Anlegen. Eigentlich hätten wir noch länger oben bleiben können, denn als wir - als letzte - das Autodeck betraten, sah es dort aus, als ob die Fähre kräftig geschüttelt worden wäre. Offenbar waren einige einfach losgefahren, nur um festzustellen, daß es nach fünf Metern nicht mehr weiterging. Kreuz und quer standen die Fahrzeuge, und wir wußten noch nicht mal genau, in welcher Richtung denn das Deck zu verlassen wäre. Als wir das herausgefunden hatten, folgten wir dem allgemeinen Verhalten und schoben unsere Fahrräder ein Stück in die richtige Richtung, bis die Hindernisse zu dicht standen und auch unseren Rädern kein Durchkommen mehr ermöglichten. Hier hieß es nun geduldig warten, bis sich nach einer Viertelstunde das Chaos allmählich aufzulösen begann. Wir instruierten den Motorradfahrer hinter uns, daß er die Rampe nach oben erst befahren darf, wenn wir oben angekommen sind. Diese Rampen sind so steil, daß ich befürchtete, ein sich aufbäumendes Rad zu erleben. Auch Rutschgefahr bestand auf dem glatten Metall. Jedoch kamen wir unbeschadet oben an und sahen nun auch den Grund des Staus: Die Zollkontrolle, die wir kurz danach ohne große Formalitäten passierten.

Hildegard war bereits einmal vor zwei Jahren in Norwegen gewesen und kannte daher auch Oslo schon ein wenig. Mit dem Stadtplan vor sich führte sie uns zum Campingplatz. Zunächst ging es aber durch die Fußgängerzone, und scheinbar hatten sich die vier Millionen Einwohner des Landes gerade an diesem Tag dort versammelt. Es war ausgesprochen mühsam, die schweren und trägen Räder durch das Gewimmel zu bugsieren, obwohl nie ein böses Wort fiel oder jemand verärgert reagierte. Schließlich fanden wir doch die Ausfallstraße, die - so hatte es uns ein Freund auf dem Plan vermerkt - zum Campingplatz führen sollte. Nachdem wir einmal fragten und einen Kilometer (und einige Höhenmeter) zurückgeschickt wurden, gelangten wir auf den gesuchten Weg, der sich als steiniger, schmaler, steiler Waldweg entpuppte. Hildegard war vor zwei Jahren bereits auf dem Platz gewesen, und damals führte eine glatte, breite, mäßig steile Straße dorthin. Verständlich, daß die Moral angesichts dieses Pfades erst einmal kurz sank. Doch erreichten wir schon nach wenigen Hundert Metern den Hintereingang von Ekeberg-Camping, bezahlten an der Rezeption und bauten unser Zelt auf.

"Nur keine Hektik!" hieß die Devise. Wir hatten Urlaub, und da muß man auch ausruhen dürfen. So vergingen rund zwei Stunden, bevor wir uns auf unsere Räder schwangen und die Asphaltstraße in die Stadt hinuntersausten. Unser erstes Ziel war der botanische Garten, ein öffentlicher Park mit verschiedenen Gebieten für Sommerblumen, Felsgarten, Wasserpflanzen und andere. Wir spazierten eine Weile umher, immer neue Ausblicke entdeckend und genehmigten uns in der Konditorei noch Kuchen und Saft.

Vigelandspark Als nächstes wollten wir uns den Vigelandspark ansehen. Die Abkürzung brachte uns mal kurz ein paar Dutzend Meter höher, führte uns aber durch wohnlich-reizvolle Gebiete der Stadt. Am Schloß bedauerte ich die Ehrenwachen von Herzen, die dort zwar wenig militärische Leistungen vollbrachten, aber doch begehrte Fotomotive waren. Das Schloß selbst bot auch einen schönen Anblick. Doch was heißt schön? Als ich den Park sah, wußte ich, daß hier etwas wirklich Einzigartiges zu finden war. Unzählige Skulpturen säumten die Wege, und im Gegenlicht der sich langsam senkenden Sonne entfachte ein Springbrunnen Feuerwerke aus Wasser. Jede einzelne der Plastiken hätte genauere Betrachtung verdient, doch dafür hätten wir unseren gesamten Urlaub in Oslo verbringen müssen. So schlenderten oder fuhren wir nur ein paar Stunden durch den Park. Dieser Park war kein Park nur für bewundernde Spaziergänger, er wurde genutzt von allen. Auf den Wiesen tobten Fuß- und Volleyballkämpfe, Kinder radelten umher, Skatebordfahrer übten auf den Treppen - überall war Leben, Bewegung, Licht. So wirkten die Statuen viel weniger statisch, sie schienen zur Bewegung der Menschen als nötiger Kontrast dazuzugehören. Ich mag die Kunstwerke nicht beschreiben, mögen Bilder für sich sprechen.

Viel später, die lange Dämmerung hatte schon längst begonnen, trennten wir uns von den steinernen Szenen und rollten wieder in die Stadt hinab, spazierten über die Mole und ließen uns inmitten fröhlicher Menschen immer weiter in Urlaubsstimmung versetzen. Auf dem Weg zum Zeltplatz erwartete uns noch ein wunderschöner Ausblick über das Lichtermeer der Stadt, doch bald konnte uns selbst der sich entfaltende Sternenhimmel nicht mehr davon abhalten, in die Schlafsäcke zu kriechen.

Muße in Museen

Mittwoch, 7. August 1996, keine Fahrradkilometer

Durch ein ausgiebiges Frühstück gekräftigt, begaben wir uns an die Bushaltestelle, von wo uns dann nach einer Weile auch ein Bus in die Stadt brachte. Wir hatten uns eine "Oslo-Karte" gekauft und konnten nun 24 Stunden lang alle Nahverkehrsmittel, Museen und anderes kostenlos oder ermäßigt nutzen. Unser erstes Ziel war das Kon-Tiki-Museum, doch zu einem Ziel gelangt man auf einem Weg, und dieser Weg führte uns zunächst wieder durch die Fußgängerzone, wo diesmal vielleicht noch nicht alle vier Millionen, aber doch eine ganze Menge Menschen unterwegs war. Ein kleiner Abstecher in eine Kirche bot sich an, und schließlich gelangten wir ans Rathaus. Dieser monumentale Bau ist bis heute umstritten. Aber wenn man schon mal davor steht, kann man ja auch mal hineingehen dachten wir uns. An der Kasse drängelten sich die Besucher. Was wollen die nur alle sehen? Dank unserer Oslo-Karte spazierten wir einfach hinein und fanden einen imposanten Saal mit für mein nicht sonderlich entwickeltes Kunstverständnis sehr gelungenen Wandgemälden. Über 1000 Personen sollen hier bei Empfängen bewirtet werden können. Irgendwie fanden wir uns dann doch auf dem empfohlenen Rundgang wieder, mal allein, mal zwischen englischen, deutschen oder französischen Reisegruppen. Die Räume lohnten den Besuch. Einen Raum konnte ich sehr gründlich betrachten, weil Hildegards Fotoapparat beim Filmwechsel auseinanderzufallen begann. Offenbar hatte sich eine weitere von drei kleinen Schrauben, die ein wesentliches Teil halten sollen, auf eigene Wege begeben. Ich betrachte es als ausgesprochenes Glück, daß ich diese Schraube auf dem Marmorfußboden auf ihrer Reise in die Welt einholen und zurückbringen konnte.

Beim Verlassen fiel mir an der Kasse ein Kartenspiel mit Bildern von Norwegen auf. Oslo ist die Stadt Jostein Gaarders, und wer sein "Kartengeheimnis" gelesen hat, versteht, daß mir die Idee kam, mit diesen Karten abends am Zelt Patiencen legen zu können und gleich noch ein schönes Souvenir zu haben. Ich zeigte Hildegard meine Entdeckung, und sie blätterte es staunend durch: "Da sind ja gar keine Joker drin!" Tatsächlich - es war mir gar nicht aufgefallen, daß das Ansichtsexemplar seiner Joker beraubt war. Jetzt waren wir uns sicher - wir müssen so ein Spiel kaufen. Die Kassiererin schüttelte den Kopf als wir - gerade haben wir das Ansichtsexemplar weggelegt - unser neuerworbenes Spiel aufrissen und durchblätterten. Da waren sie: Zwei Joker. Einer mit einem Bild aus dem Vigelandspark, der andere zeigte eine Skulptur von "Fridtjov der Valiant" aus Sogn.

Jetzt aber ab zum Hafen dachten wir. Die Fähre zum Kon-Tiki-Museum ließ uns noch Zeit, den Fährenplan für den nächsten Tag zu studieren und Lachs- und Krabbenbrötchen zu essen.

Kon-Tiki-Museum, Fram-Museum und Schiffahrtsmuseum liegen gleich nebeneinander, bis zu den Wikingerschiffen muß man etwa eine Viertelstunde laufen. Wir besuchten Kon-Tiki-, Fram- und nach einer schläfrigen Mittagspause auch noch das Wikingerschiff-Museum. Alle diese Museen regten meine Phantasie an. Sich vorzustellen, wie sich Menschen in das Unbekannte wagten, zusammengesperrt auf engstem Raum, war faszinierend. Ob das nun vor vielen Tausend, wenigen Tausend oder Hundert Jahren geschah, die Bedingungen unterschieden sich nur wenig. Ein kleines bißchen wollten wir ja auch von diesem Gefühl erleben: Mit einer Ausrüstung, die auf zwei Räder paßt, drei Wochen durch ein fremdes Land reisen. Doch unsere Vorfahren konnten nicht mal eben schnell Fehlendes nachkaufen. Wer hat sich schon mal überlegt, was es heißt, Lebensmittel für 5 Jahre zu besorgen und einzulagern, wie es die Besatzung der Fram tat, als sie durch das Eis zum Nordpol driften wollte? Oder wie es ist, wochenlang auf engstem Raum zusammen mit anderen Menschen unter einem Schilfdach auf hoher See zu schlafen bei Sturm oder Hitze? Gedankenverloren warteten wir an der Anlegestelle auf die bequeme Fähre, die uns zurück in die Stadt bringen sollte.

Die Sonne stand noch hoch am Himmel, aber eigentlich war jetzt ein den Kopf weniger anstrengender Programmpunkt fällig. Wie wäre es mit einer Fahrt auf den Holmenkollen? Die Wartezeit auf die Bahn füllten wir mit einem Eis. Überhaupt bemerkte ich, daß das sehr gute Nahverkehrsnetz verglichen mit anderen Städten recht selten befahren wird. Wo man in Chemnitz noch auf gut Glück an die Haltestelle gehen kann, muß man in Oslo schon mal einen Blick auf den Fahrplan werfen, wenn man sich nicht zu sehr beim Warten langweilen will. Schließlich kam die Bahn aber doch, und die Fahrt war ein Erlebnis für sich. Was in der Stadt noch eine U-Bahn war, die den Strom aus der Stromschiene bezog, entwickelte sich außerhalb zu einer Bergbahn mit einem Stromabnehmer auf dem Dach. Langsam legten wir Serpentine um Serpentine zurück. Die Schienen waren nur festgeklemmt, nicht verschraubt. Das sah ich später auch auf den Eisenbahnstrecken. Ob das bei Kälte im Winter günstiger ist?

An der Haltestelle bei der Sprungschanze stiegen wir aus und erklommen auf dem Fußweg die letzten Höhenmeter bis zu dem weltbekannten Bauwerk. Ich ließ vor meinem geistigen Auge Schnee fallen und stellte mir die Menschenmengen vor, die den Springern hier im Winter zujubeln. Ein Blick in die Journalistenkabinen zeigte, wie beengt die Berichterstatter bei solchen Wettkämpfen sitzen. Wir waren schon fast auf dem Weg zur Haltestelle, da fiel unser Blick auf die offene Tür des Skimuseums. Für einen schnellen Blick ist noch Zeit, sagten wir uns, und folgerichtig sah uns die nächste Stunde Skier aus allen möglichen Epochen begutachten und schließlich - welche Überraschung - sogar noch mit einem Lift zum Schanzentisch hinauffahren. Hier war der Ausblick auf die Schanze und ganz Oslo wirklich beeindruckend. Vermutlich werden das viele Leser schon aus dem Fernsehen kennen. Aber ich versichere: Ein Blick hinunter auf die Schanze ist in Wirklichkeit doch etwas anderes. Da hinunterfahren? Nicht mit mir!

So war ich auch ein klein wenig froh, als wir wieder unten waren und nun endlich der Haltestelle zustrebten. Hildegard hatte schon mehrfach etwas von Hunger gemurmelt, doch das hatte ich mehr als Vorfreude auf unser abendliches Mahl gedeutet. Deswegen zuckte ich gehörig zusammen, als sie urplötzlich laut losjubelte: Sie hätte noch einen Keks, den sie völlig vergessen hatte, und den sie jetzt essen könnte. Da war der Hunger wohl doch ein wenig schlimmer, als ich gedacht hatte.

Wir fuhren also mit Berg-/U- und Straßenbahn zurück, liefen den steilen Waldweg zum Campingplatz hinauf und hatten bald darauf auch einen Topf zwischen uns, der schnell leergelöffelt war.

Die erste Tour

Donnerstag, 8. August 1996, 73 km

Es war noch relativ zeitig, als wir uns aus unseren Schlafsäcken quälten, aber wir wollten unser Oslo-Ticket noch einmal für die Fährfahrt nutzen. Ein Motorradfahrer wollte gern unseren Zeltplatz nutzen und hoffte in der Nähe, daß wir endlich zusammenpacken. Meine Abwesenheit nutzte er, um Hildegard zu erklären, wie schön die Motorradreisen sind, und daß wir uns auch so eine tolle Maschine kaufen sollten. Demonstrativ startete er von Zeit zu Zeit den Motor, um fünf Meter vor oder zurück zu fahren. Merkwürdig war nur, daß sein Motorrad eine norwegische Nummer trug, was eine Anreise aus Deutschland doch recht unwahrscheinlich machte. Er ließ es sich nicht nehmen, uns für die nächste Woche Regen zu prophezeien. Wir waren recht froh, diesen Zeitgenossen hinter uns lassen zu können.

Die rasante Abfahrt nach Oslo hinunter wurde noch kurz für eine schöne Aufnahme der Stadt unterbrochen, dann rollten wir weiter und trafen mit minutiöser Genauigkeit an der Fähre ein. Unsere Räder hatten kein Oslo-Ticket, für die mußten wir also doch noch etwas bezahlen, dann setzten wir auf dem kleinen Personentransporter nach Nesoddtangen über. Gleich beim ersten Mal erlebten wir, was sich später als Gesetz in unsere Köpfe brennen sollte: Nach einer Fähre geht es prinzipiell bergauf. An sich ein logisches Phänomen, nur, warum müssen die Straßen immer gleich so steil sein, wenn die Muskeln noch keine Zeit fanden, sich zu erwärmen?

Bergauf und bergab rollten wir an der Ostseite des Oslofjordes nach Süden. Eine kleine Fehlinterpretation der ansonsten ausgezeichneten Cappelen-Karte bescherte uns ein zusätzliches Kringel auf unserer Route, welches zur Entschädigung einen wunderschönen Aussichtspunkt streifte. Wir gelangten nach Drøbak. Diese Stadt, an der engsten Stelle des Oslofjordes gelegen, erlangte im Zweiten Weltkrieg Bedeutung, weil ein norwegischer Soldat den sich bis dahin unbemerkt nähernden Kreuzer "Blücher" in Brand schoß und versenkte. So gewann der norwegische König genug Zeit, sich ins Land abzusetzen und den Widerstand zu organisieren. Wir wollten hier auf die Westseite des Fjordes übersetzen und rollten nach einer kurzen Pause in einem Park auf die wie bestellt bereitliegende Fähre. Die immer noch in der Fahrrinne liegende "Blücher" sahen wir nicht, wohl aber die Festung, von der aus die Schüsse abgegeben wurden.

Nach dem der Fähre folgenden üblichen Anstieg fuhren wir mal mehr mal weniger steile Straßen entlang bis sich nach einem besonders hohen Anstieg, bei dem wir den kurzen, steilen Radweg zugunsten der langen Serpentine auf der Straße mieden, der Himmel bedenklich zuzog. Während der anschließenden Abfahrt begannen die ersten Tropfen zu fallen, weswegen wir uns bald in einer Unterführung wiederfanden und dem nunmehr kräftigen Regenguß zusahen. In Tofte stehen die größten Zellulosewerke Norwegens, und so genossen wir den Anblick der Fabriken, während von beiden Seiten das Wasser in unseren Unterstand zu fließen begann. Mißtrauisch beäugten wir den Gulli, er schien dem Ansturm des Wassers gerade noch gewachsen zu sein. Schließlich ließ der Regen etwas nach, und nach einem gründlichen Studium unserer Karten setzen wir unsere Fahrt im Regencape fort. Ziel war nun der nächste Campingplatz.

Erneut ging es bergauf, ein langer, sanfter Anstieg war im leichten Regen zu bewältigen. Meine Laune sank etwas. Sollte dieser Motorradfahrer recht behalten und die folgenden Tage bedeuteten Fahrten im Cape? Von der Landschaft war durch den Regenschleier nicht viel zu sehen. Irgendwann bog Hildegard, die die Karte hatte, plötzlich links ab. Eine kleine Straße ging es nun hinab, von der wiederum ein Weg abzweigte. Die letzten Häuser hatten wir schon längst hinter uns gelassen, immer weiter ging es bergab. Der Asphalt wich einer festgefahrenen Sand- und Schotterdecke. Triefende Sträucher ließen den Weg immer schmaler werden. Eine altersschwache Brücke aus Brettern war zu queren. Wie romantisch könnte es hier sein, wenn nicht alles so feucht wäre, ging es mir durch den Kopf. An die Existenz eines Campingplatzes glaubte ich schon nicht mehr so recht, als sich plötzlich die Büsche teilten und den Blick auf ein paar Wohnwagen freigaben. Ein kleiner Kiosk dazwischen hatte sogar die Tür offen. Tatsächlich, hier lebten Menschen, und wir bekamen einen Schlüssel zur Dusche und einen ebenen Platz für unser Zelt. Letzteres wäre im Wald vorher kaum zu finden gewesen.

Ich war erleichtert. Eigentlich bin ich gern allein in freier Natur, doch mußte ich in diesem Jahr feststellen, daß ich zwei Tage brauchte, um mich an das Alleinsein zu gewöhnen. Das Gefühl, der einzige Mensch in weitem Umkreis zu sein, konnten die bisherigen Urlaubsländer in dieser Intensität nicht vermitteln. Später relativierte sich das wieder. Die Norweger bauen an vielen Stellen kleine Hütten, in denen sie ihre Wochenenden und Urlaube verbringen. Nur im Norden gibt es Gegenden, an denen man wirklich allein und ganz auf sich selbst angewiesen ist, doch in den von uns bereisten Gegenden stieß man immer wieder auf Menschen und ihre Spuren. Aber meine Vorstellungen von diesem Land konnte ich ja erst während des Urlaubs präzisieren.

Inzwischen hatte auch der Regen aufgehört. Wir bauten unser Zelt trocken auf. Ein weiterer Schauer ließ uns schnell in unser Domizil flüchten. Eine halbe Stunde später war auch der vorbei. Es war Zeit duschen zu gehen. Wo ist der Schlüssel? Beide hatten wir ihn zuletzt auf dem Holztisch, in dessen Nähe unser Zelt stand, gesehen. Dort lagen zwar noch einige unserer Utensilien, nicht aber der Schlüssel! Wer hat den Schlüssel nur weggenommen? Die Campingplatzbesitzerin vielleicht? Sie hatte uns ja noch extra darauf hingewiesen, daß die Schlüssel knapp sind und wir bitte sorgfältig damit umgehen sollten. Oder war in der halben Stunde ein Kind vorbeigekommen und wollte uns einen Streich spielen? Vielleicht gab es hier Elstern? Ja, tatsächlich, das silbrig glänzende 50-Öre-Stück, welches wir beim Zeltaufbau gefunden hatten, war auch weg. Die Bewohner eines Bungalows, die nach dem Regen nun auch wieder hervorkamen, halfen uns beim Suchen. Schließlich gaben wir es auf, der Schlüssel war und blieb verschwunden. Schweren Herzens meldete sich Hildegard bei den Verwaltern, wo sie unkompliziert einen neuen Schlüssel ausgehändigt bekam. Nach einer heißen Dusche, einer ebenso heißen Mahlzeit und einem Tee, der durch den mitgebrachten Rum zusätzlich verfeinert wurde, fielen wir in einen Schlaf, der nur durch das gelegentliche Geräusch weiterer kleiner Schauer auf unser Zelt unterbrochen wurde.

Dramsfjord und Mjøndalen

Freitag, 9. August 1996, 78 km

Es dauerte ein Weilchen, bis wir ernsthaft begannen, unser Gepäck auf den Rädern zu verstauen. Dafür konnten wir aber auch ein absolut trockenes Zelt einpacken. Beim Zusammenräumen fegte ich die Krümel des Abendessens aus dem Zelt und mit den Krümeln - den Schlüssel! Keiner weiß, wie der in das Zelt und unter die Isomatten gekommen ist. Aber Norwegen ist ja das Land der Trolle, erst am Vortag hatten wir ein Verkehrsschild "Achtung Trolle" fotographiert. Wir beließen es bei dieser Erklärung und lieferten den Schlüssel erleichtert am Kiosk ab, als wir aufbrachen. Dieser Zeltplatz wird, obwohl herrlich an der Küste gelegen, nur selten von Radwanderern aufgesucht. Wir wurden beim Abschied noch interessiert nach Woher und Wohin ausgefragt.

Wir fuhren den Sand- und Asphaltweg wieder zurück. Im morgendlichen Sonnenschein strahlte er eine völlig andere Wirkung aus, und ich war fasziniert von der Veränderung der Landschaft - allein durch das Licht, das Wetter und vielleicht auch meine Laune.

Wir wollten am Dramsfjord nach Drammen fahren, doch stießen wir plötzlich auf eine Umleitung. Bis Freitag, 15.00 Uhr sollte die Straße gesperrt sein, entzifferten wir. Nun, wenn eine Straße bis 15.00 Uhr gesperrt ist, dann wird sie wohl bis 12.00 Uhr in einem Zustand sein, in dem man sie mit dem Fahrrad passieren kann, sagten wir uns und fuhren guter Dinge an dem Sperrschild vorbei. Es war eine herrliche Abfahrt auf der leeren Straße. Von Zeit zu Zeit überholten uns LKWs, die verdächtig große Steinbrocken transportierten, ansonsten war die Fahrt der reine Genuß. Schließlich standen wir vor der Baustelle. Donnerwetter! Da fehlte auf etwa 50 m die Straße völlig! Riesige Bagger sortierten die Steinbrocken von den LKWs ein und schufen so ein Bett, auf dem später kleinere Steine und Splitt den Untergrund für den Asphalt bilden können. Aber noch spielte sich das Geschehen ca. einen Meter unterhalb der künftigen Straßendecke ab.

Der letzte bereitstehende Kipper hatte gerade seine Last abgeworfen, so winkte uns ein Arbeiter, daß wir nun unsere Räder vorbeibringen könnten. Scheinbar begann sowieso gerade eine Pause. Also wuchteten wir unsere schweren Räder von Felsbrocken zu Felsbrocken an den riesigen Raupenketten des Baggers vorbei auf die andere Seite. Zurückschauend zweifelte ich ernsthaft, wie selbst bei optimalem Arbeitsablauf hier in zwei Stunden wieder PKWs durchkommen sollen.

Nun erwartete uns eine wunderschöne Strecke am Fjord entlang. Erst am Ende des Urlaubs wußten wir, daß wir hier etwas Einzigartiges erlebt hatten: Mehrere Kilometer ebene Straße. An einer hübschen Stelle setzten wir uns ans Wasser und aßen Mittag. Merkwürdige Steine lagen dort herum. Sie sahen aus wie Schwämme und waren so leicht, daß sie auf dem Wasser schwammen. Später erfuhren wir, daß das wirklich natürliche Steine vulkanischen Ursprungs sind.

Die Durchquerung von Drammen wurde ein Abenteuer anderer Art. Stoßstange an Stoßstange strömte der Verkehr auf den Europastraßen durch den Ort. Es war Freitag und alle Norweger zogen folglich in ihr Landhaus. Ein Überqueren der Straße war nicht möglich. Wir folgten den unzureichend ausgeschilderten Radrouten, und mehr als einmal standen wir zweifelnd an einer Verzweigung, während ein paar Meter neben uns der Verkehr auf den Ausfallstraßen dahinbrauste. Nach ein paar Unter- und Überführungen mit teilweise unangenehm steilen Rampen fanden wir schließlich auch eine Brücke für uns und bald darauf auch die richtige Ausfahrt aus dem Ort. Eine Konditorei und eine Kaufhalle lieferten die nötigen Energiepakete. Den Kuchen verspeisten wir gleich an der Stadtgrenze neben einer hübschen, ruhigen Kirche.

Der Autor unseres Radreiseführers "Norwegen per Rad" Frank Pathe schildert die Routen durch das Mjøndalen als "weder schön noch angenehm zu befahren". Vielleicht hätten wir seine Meinung, nachdem wir viele andere Strecken gefahren sind, geteilt, noch war uns aber der mitteleuropäische Verkehr gegenwärtig, und dagegen erschien das Mjøndalen als die reinste Erholung. Am Ende des Tales ließ uns ein mißverständlicher Wegweiser erst einmal zwei Kilometer den falschen Weg hinauffahren, bevor wir dann den richtigen Berg fanden und nach sechs Kilometern sanfter Steigung erschöpft zugaben, diese Aufgabe unterschätzt zu haben. Doch nun war es ja nicht mehr weit bis Fiskum, wo ein Campingplatz sein sollte.

Schließlich waren wir in Fiskum, nur fand sich kein Campingplatz. Was sich fand, war ein großes Schild, das den Radfahrern mit ein paar graphischen Tricks die alte Straße statt der Fernverkehrsstraße nach Kongsberg nahelegte. Da Kongsberg die nächste Stadt auf unserer Route mit einem Campingplatz war, folgten wir dem Hinweis - und stießen auf "Fiskumer Camping". Gut versteckt wies nur ein einziges kleines Schild in 100 m Entfernung auf dieses Fleckchen hin. Während Hildegard das Zelt aufbaute, holte ich aus der nahen Fiskumer Kaufhalle einige schmackhafte Ergänzungen für Abendessen und Frühstück. Ein Reisebus mit tschechischen Wanderern traf ein. Hildegard wurde im Waschraum auf tschechisch nach warmem Wasser gefragt, und der Frager wunderte sich kein bißchen, daß er auf einem norwegischen Zeltplatz ohne weiteres eine tschechische Antwort erhielt. Ich dachte, dieses Verhalten wäre vor allem deutschen Touristen eigen.

Der dritte Tag

Sonnabend, 10. August 1996, 38 km

Tourenfahrer kennen das Problem: Der dritte Tag ist der schwerste. Bei meinen bisherigen Touren war mir dieses Phänomen noch nicht so deutlich aufgefallen, aber als wir an diesem Morgen in die alte Straße nach Kongsberg einbogen, wußte ich, daß das ein ganz typischer "dritter Tag" wird. In steilen Serpentinen wand sich die den Radfahrern "anbefohlene Route" nach oben. Die Sonne schien bereits mit voller Kraft, und ich nutzte einige Male den Schatten eines Baumes um kurz zu verschnaufen. Nur gut, daß wir uns das nicht noch am Vorabend angetan hatten. Zu allem Überfluß hörte auch noch mein Computer auf, die mühsam zurückgelegten Meter zu zählen. Eine kurze Untersuchung zeigte, daß die Lötstelle an dem gerissenen Kabel kalt geworden war. Ich entfernte das Lötzinn und drehte die Kabelenden lose zusammen - das hielt dann bis zum Ende der Tour.

Rastplatz im Jondalen Nach Kongsberg hinein ging es dann natürlich steil bergab. Irgendwo in der Nähe fand ein Treffen amerikanischer Autos statt, deswegen waren unheimlich viele Straßenkreuzer unterwegs, die offenbar von ihren Fahrern nicht völlig beherrscht wurden. Die Stadt gefiel uns ausgezeichnet. Ihre Bedeutung verdankt sie den Sachsen, die nach einem Silberfund im Jahre 1623 ihr Know-How hierherbrachten und eine Ausbeute der Lagerstätten ermöglichten. Wir deckten uns mit Lebensmitteln für das Wochenende ein und verließen die Stadt bald wieder, um die Landschaft der Telemark zu genießen.

Nach einem kleinen Stück auf der Fernverkehrsstraße 40 bogen wir in das Jondalen ab, wo eine sanft steigende, kaum befahrende Straße malerisch am Fluß entlang führte. Links bot sich nach einer Weile ein faszinierender Rastplatz an. Sonnenbeschienene Felsplatten ragten in das Wasser hinein, das hier ruhig und flach vorbeifloß um ein paar Meter weiter durch Stromschnellen in die Tiefe zu sausen. Erfrischt und auch mit ein wenig Bedauern verließen wir diesen idyllischen Ort.

Lagerplatz Es war wirklich der dritte Tag, und als sich die Straße zu einem weiteren Rastplatz öffnete, beschlossen wir, uns nicht weiter zu quälen. Schließlich hatten wir Urlaub. Zudem bot der Platz einige Vorteile: Das hier befindliche Restaurant war zwar nicht in Betrieb, weil es nur für die Wintersportler arbeitet, aber die Waschräume waren offen und in sehr gutem Zustand. Ein paar Schritte weiter fand sich hinter einem Skilift im Wald auch eine hübsche Wiese am Weg, und bald darauf hatten wir auch ein paar Quadratmeter Boden von Kiefernzapfen befreit und unser Zelt aufgestellt. Als dann der Kocher mit einigen Fauchern seine Arbeit begann, waren wir sehr zufrieden mit unserer Entscheidung und konnten, nachdem wir unser Mückenmittel eingesetzt hatten, den Abend von Herzen genießen.

Der erste Paß

Sonntag, 11. August 1996, 77 km

Dieser Tag sollte uns unseren ersten Paß bescheren. Zwar lag der nur bei 750 m, aber auch die wollten erst einmal bewältigt sein. So zögerten wir nicht lange, sondern packten nach dem Frühstück schnell zusammen. Es war angenehm, die wiedergekehrte Kraft zu spüren. Das Rad rollte fast von allein, zudem blieb der erste Teil der Etappe von größeren Steigungen verschont. Wir konnten die Landschaft genießen, und ich stellte fest, daß es zwar eine Unmenge von Hütten und Häuschen, vor allem an den Seeufern gab, daß aber kaum mal eine Anfahrt dahin gebaut wurde. Die Gebäude standen einfach so im Wald, und mehr als die Fläche des Hauses schien in der Natur nicht verändert worden zu sein. So störten sie kaum den Eindruck einer einsamen und naturbelassenen Landschaft.

Manchmal erkannte man verborgene Hütten nur an den Briefkästen. An kleinen Waldwegen befanden sich zuweilen schier endlose Reihen davon, und oft waren einzelne Exemplare liebevoll bemalt oder beklebt. Hildegard fotographierte die originellsten. Fast jede Briefkastenreihe enthielt auch einen in roter Farbe für die abgehende Post. Norwegen erscheint mir als das Land mit der größten Briefkastendichte, was bei der geringen Bevölkerungszahl sehr erstaunlich ist.

An einem Campingplatz fuhren wir vorbei, bis bei Ormemyr der Anstieg begann. Erst mal oben sein, dann gibt's Essen sagten wir uns. So traten wir im kleinsten Gang und kamen mit nicht viel mehr als einem guten Wandertempo langsam nach oben. Die Heimtücke dieses an sich niedrigen Passes bestand darin, daß es nach 350 Höhenmetern erst noch einmal kurz, aber steil bergab geht, bevor der eigentliche Anstieg zum Paß folgt. Wir pausierten auf diesem Vorgipfel erst einmal auf einer Wiese, die ein wahrhaft gigantischer Birkenpilz zierte. Uns nützte er nichts, so ließen wir ihn stehen.

Irgendwann kamen wir dann auch am eigentlichen Paß an - erschöpft aber stolz. Gar zu euphorisch wollten wir aber nicht werden, denn die nächste Etappe sah drei Pässe vor. Doch hier genossen wir erst einmal die Aussicht und anschließend eine Tasse heiße Schokolade und etwas Kuchen in dem kleinen Restaurant.

Eine herrliche Abfahrt, die wegen einiger Ausblicke zu recht mehrfach unterbrochen wurde, führte uns wieder hinab. Unser Radführer prophezeite uns für die nächsten 2 km einen Anstieg, bei dem man "selbst mit sehr kleinen Übersetzungen Schwierigkeiten bekommt". Wir hatten die Qualität dieses Buches bereits zu schätzen gelernt und gingen diese Straße deshalb optimistisch an. Tatsächlich, nach 2 km ging der wirklich steile Anstieg in ein welliges Auf und Ab über und entschädigte mit traumhaften Ausblicken für die Anstrengungen.

Weiter ging es Richtung Bakko, wo uns die Karte einen weiteren Zeltplatz ankündigte. Viel weiter konnten wir sowieso nicht fahren, denn dort beginnen die Serpentinen zum nächsten Paß. Also genossen wir die Natur des Tales auf den letzten Kilometern. Die Sonne schien, und als uns noch am Wegrand ein Elch erwartete, war unser Glück vollkommen. Beinahe hätten wir das Tier auf der Wiese übersehen. Als wir dann überrascht anhielten, wurde er unruhig und lief in einer lustig aussehenden, aber auch elegant wirkenden Art und Weise davon. Es schien, als ob er Spaß am Laufen hätte, so wie er die Beine bewegte. Trotzdem waren seine Bewegungen flüssig.

Unseren Zeltplatz gab es nicht nur auf der Karte, sondern auch in der Natur. Er kostete uns nur 30 Kronen, was uns besonders erstaunte, als wir lasen, daß allein die Benutzung der Duschen für Fremde 20 Kronen kostet. Außer uns war noch ein norwegisches Wohnmobil da, eine Hütte war bewohnt, und eine weitere norwegische Familie war mit Traktor und Wohnanhänger in den Urlaub gefahren.

Eine heiße Suppe beendete den Tag.

1500 Höhenmeter

Montag, 12. August 1996, 59 km

Die Sonne stand schon am Himmel, als wir aus dem Zelt krabbelten. Heute sollten also Höchstleistungen geboten werden. Nun, wir hatten Urlaub, und erzwingen wollten wir die drei Pässe nicht. Aber wenn es sich anbot ...

Als wir unsere Räder zur Straße schoben, wartete dort ein anderer Radfahrer mit vollbepacktem Rad. Henk aus den Niederlanden hatte das gleiche vor wie wir. Wir schielten noch einmal zur Besitzerin des Platzes, ob sie vielleicht doch noch ein paar Kronen für die Dusche haben wolle, dann schwangen wir uns auf's Rad. Bald schon fuhr ich Serpentinen auf der Straße, um die Last auf den Beinen zu verringern. Eine Mautstelle verlangte von Radfahrern keine Gebühren, wir fuhren einfach durch. Der Schweiß floß über's Gesicht, die Bäume wurden niedriger. Weit unten im Tal sahen wir unseren Zeltplatz mit dem skurrilen Traktor-Wohnwagen-Gespann. Henk überholte mich, Hildegard machte eine Photopause und blieb hinter mir. Zwei alte Leute hatten mit dem Auto ihre Campingstühle hier hinaufgebracht, saßen nun an der Straße in der Sonne und schauten uns zu. Irgendwann hörten auch die Büsche auf, nur noch Flechten, Moose und Kräuter bedeckten den Boden. Ein letzter Blick zurück ins Tal, dann wurde die Straße schon flacher - der Paß war erreicht.

Der erste Paß Henk erwartete uns dort oben. Die Landschaft war faszinierend, ich mochte mich gar nicht losreißen von diesem Anblick. An den Seiten dieser 1175 m hohen Straße ragten die Berge in die Höhe. Einige Hütten konnte man im kargen Felsgestein noch erkennen, wie die Bewohner dorthingelangen, sah ich schon nicht mehr - denn dazwischen floß ein kleiner Fluß. Überall gab es Seen, durch kleine Bäche verbunden und von verschiedenartigen Moosen umsäumt. Die Fahrt auf diesem Hochplateau, vom Rückenwind und der ganz leicht abfallenden Straße getrieben, gehört zu den schönsten Stücken des Urlaubs.

Nach einigen Kilometern wurde die Straße zu einer Schotterpiste, die unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Wir umfuhren einen See. Ein Bus brachte eine Gruppe Touristen zu einem kleinen Hotel auf der gegenüberliegenden Seite. Schließlich ging es wieder bergab, eine rasante Abfahrt versprach uns unser Radführer und behielt recht. Ich hielt an, um drei Schafe zu photographieren, die am Straßenrand wie in einer Loge die herabbrausenden Radler bestaunten. Auf dieser ausgezeichnet trassierten Straße ins Uvdal hinab erreichte ich phantastische Geschwindigkeiten, doch erst der nächste Paß bescherte mir die Maximalgeschwindigkeit des Urlaubs mit 64 km/h. Es mag gefährlich klingen, mit solchem Tempo die Berge hinabzurasen, doch wenn man sich überlegt, wo man entlangfährt, falls eine Bremse ausfällt und prinzipiell darauf achtet, auf der überschaubaren Strecke anhalten zu können, ist das Risiko gering.

In Uvdal trafen wir uns auf nur 500 m Höhe alle wieder, bereit, den nächsten Paß anzugehen. Zunächst trafen wir auf eine für LKWs gedachte Tafel, die die Steigungen und Höhen der nächsten Kilometer erläuterte. Da hatten wir uns ja noch einiges vorgenommen! Zehnprozentige Steigungen über mehrere Kilometer wurden uns dort angekündigt. Gleich danach ging es auch entsprechend los. Die Straße war ein wenig stärker befahren, gerade so viel, daß es sich nicht lohnte, auf der Straße Serpentinen zu fahren, weil man zu oft wieder an den Rand gescheucht wurde. Der Straßengraben wurde gerade mit schwerer Technik neu gebaut, vermutlich war auch eine Verbreiterung der Straße geplant. So war dieser Anstieg keine reine Freude. Auf halber Höhe machten Hildegard und ich erst einmal Pause, Henk war vorausgefahren, so daß wir ihn nicht mehr informieren konnten. Hildegard hatte sich aber schon etwas mit ihm unterhalten und meinte, daß er warten würde. Er ist Meteorologe und hatte sich gefreut, einmal nicht allein fahren zu müssen. Überraschend wenige Reiseradler waren auf Norwegens Straßen unterwegs.

Schließlich nahmen wir auch den zweiten Teil des Anstiegs in Angriff und erreichten auch den Gipfel bei 1100m. Das heißt - wenn es der Paß wäre, müßte doch Henk irgendwo stehen? Ein paar Hundert Meter weiter sah ich ihn dann, also war es doch der Paß. Doch nicht nur Henk erwartete uns dort oben. Dieser Paß hielt als Überraschung einen weiteren Elch für uns bereit. Eine ganze Anzahl Autotouristen fuhr vorbei, ohne das Tier zu bemerken. Wir hielten an, und wie schon beim ersten Mal war das der Anlaß für den Elch, mit ausgreifenden Schritten streckenweise regelrecht hüpfend im Wald zu verschwinden. Wir würdigten noch die Landschaft gebührend und schossen erneut hinab ins Tal nach Dagali. Einkaufen müssen wir noch, fiel uns ein! Wir hatten diesen Punkt bewußt hinausgezögert, wollten wir doch unsere Lebensmittel nicht über die Pässe schleppen. Aber jetzt wollten wir nicht länger warten. Wir erreichten das Geschäft keine Minute zu früh: 16.30 Uhr wird geschlossen, 16.29 Uhr betraten wir den Laden. Stolz über das wahrhaft perfekte Timing aßen wir erst einmal ein Eis und tranken einen Liter Milch, bevor wir mit gefüllten Taschen den dritten Paß des Tages angingen. Dieser Paß war vor allem deswegen schwierig, weil wir schon etwas die Anstrengung in den Beinen spürten. Doch die knapp 300 Höhenmeter bis auf 1063 m bewältigten wir auch noch. Unnötig zu erwähnen, daß auch diesmal die Natur den Wunsch zum längeren Verweilen weckte.

Nach der Abfahrt war unser Ziel der nächste Campingplatz, den wir bei Bruvoll erreichten. Henk zog eine Nacht in freier Natur vor und fuhr weiter. Der Platz war tatsächlich etwas teuerer, bot aber eine eingerichtete Küche - einschließlich Töpfen und Wischtüchern - und war auch sonst sein Geld wert. Wir stellten uns neben ein niederländisches Wohnmobil, und der zunächst wortkarge Nachbar erfreute uns in der Dämmerung mit einigen Liedern zur Gitarre, die er für sich spielte.

Zum Rallarvegen

Dienstag, 13. August 1996, 72 km

Kalt war es, als wir morgens erwachten. Aber unser Zelt stand ja auch in über 750 m Höhe, und da kann man im Schatten nicht gleich mit sommerlichen Temperaturen rechnen. Trotzdem verzichtete ich auf die langen Hosen und stellte am Ende des Urlaubes fest, daß ich sie nur auf der Hin- und Rückreise angezogen habe.

Über einen kleinen - ja, so ändern sich die Verhältnisse - Paß fuhren wir nach Geilo. Dieser Wintersportort hat nicht viel außer Touristen zu bieten. Wir erkundigten uns nach den Öffnungszeiten der Hütten am Rallarvegen, kauften ein und wandten uns nach Westen. Leider mußten wir nun die Fernverkehrsstraße benutzen, und wenn sie auch verglichen mit deutschen Straßen als ruhig gelten kann, so waren wir doch inzwischen Besseres gewöhnt. Schließlich fanden wir einen hübschen Rastplatz für unser Mittagsmahl, bevor wir die letzten Kilometer bis Haugastøl zurücklegten. Dort sollte der Rallarvegen beginnen, ein Weg, der für den Bau der Bahnstrecke Oslo - Bergen benötigt wurde und nun als Wander- und Radweg durch diese Gebirgslandschaft verläuft. Das faszinierende Erlebnis "Rallarvegen" hat sich unter den Reiseradlern herumgesprochen, und so konnten wir hier eine Konzentration derjenigen Radler erwarten, die in Südnorwegen unterwegs sind. Zunächst kam noch eine weitere Fahrspur hinzu, die mit "Rallarvegen" ausgeschildert war. Donnerwetter, kommen hier so viele Reiseradler an, daß das nötig ist? Nein, diese Fahrspur führte auf den Parkplatz, wo gerade eine Gruppe Mountainbiker ihre Räder von den Autos hob. Aber danach begann der richtige Rallarvegen, und schon nach wenigen Dutzend Metern waren Parkplatz und Fernverkehrsstraße vergessen, so schön war die Natur. Immer neue Ausblicke in weite Felsentäler taten sich auf. In großen Schleifen lief der Weg immer in der Nähe der Bahntrasse, sie auch gelegentlich unterquerend, entlang. Andere Radler kamen uns entgegen, meist ohne oder mit leichtem Gepäck, immer aber mit einem Gesicht, dem die Faszination dieser Landschaft anzusehen war.

Die Bahnstrecke wird teilweise neu verlegt. Wo sie früher in weiten Schleifen an den Hängen entlangführte und durch Schneetunnel aufwendig gesichert werden mußte, werden jetzt direkte Tunnel in den Felsen gehauen. So trafen wir auf Baustellen mit schwerer Technik mitten in der Einsamkeit. Die Natur hatte nicht mehr den Anspruch, jedes Fleckchen bedecken zu müssen. Karge Felsbrocken lagen herum, und nur geschütztere, sonnigere oder feuchtere Stellen waren noch von dichten Moosteppichen bedeckt. Damit die Baufahrzeuge den Weg nicht zerstören, war loser Split aufgeschüttet worden - streckenweise war der Weg für uns nur unter größten Mühen befahrbar.

Allmählich sank die Sonne, die lange Abenddämmerung begann. Wir begegneten immer weniger Leuten, sahen dafür aber von Zeit zu Zeit einzelne Zelte am Wegrand stehen. Schließlich tauchte Finse, die höchstgelegene Bahnstation Norwegens auf. Wie in einem Wildwestfilm wirkten die im weichen abendlichen Licht liegenden Holzhäuser. Straßen führten nicht hierher, nur über den Rallarvegen oder mit der Eisenbahn kann man diese Siedlung in 1222 m Höhe erreichen.

Wir fuhren weiter und hatten immer mehr den Eindruck, durch amerikanische Landschaften zu fahren. Schneefelder blinkten aus der Ferne. An der alten Bahnstrecke arbeiteten noch kleine Trupps am Abbau der Schneetunnel. Ein paar Wohncontainer, Jeeps, Baufahrzeuge - mehr war nicht zu sehen. Eisenbahn(ab)bau in unwirtlicher Einsamkeit.

Wir erreichten den höchsten Punkt des Rallarvegen mit 1345 m. Es war höchste Zeit, sich nach einem Nachtplatz umzusehen, doch ebene, trockene Wiesen gab es hier nicht mehr. Schließlich bestimmte ich ein Moosfeld zum Zeltplatz. Die Löcher zwischen den Büscheln konnten wir später mit Kleidungsstücken ausstopfen, um einen ebenen Platz für den Schlafsack zu gewinnen. Zwei weitere Zelte waren von unserem Platz aus sichtbar, doch kaum war die Sonne hinter dem Berg verschwunden, verschmolzen sie mit dem Grau der Felsen und waren kaum noch auffindbar. Empfindlich kalt wurde es jetzt, die dicke Fleece-Hose tat gut. Stetig strich der Wind über unseren einsamen Platz. Ausgesprochen kompliziert wurde das Zünden des Kochers. Ich verbrauchte einen großen Teil des Streichholzvorrates mit meinen Versuchen. Erst als ich aus herumliegenden Steinen im Schutz eines Felsblockes noch zusätzlich einen Wall gebaut hatte, ertönten die vertrauten Faucher und bald darauf das beruhigende Brummen. Das Wasser aus dem vom Gletscher gespeisten See ergab einen wunderbaren Tee, der mit Rum angereichert auch gut gegen die Kühle half.

Dieser Abend in 1340 m Höhe zwischen Felsen und Schneefeldern auf dem Moos am Rallarvegen war sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn der Höhepunkt unserer Tour.

Nach Flåm

Mittwoch, 14. August 1996, 38 km

Himmlisch ruhig war dieser Morgen, wenn man von dem einen Traktor absieht, der schon im Morgengrauen die Bauarbeiter an ihren Arbeitsplatz irgendwo am Rallarvegen brachte. Ein Blick aus dem Zelt bestätigte mir: Ich war wirklich in diesen herrlichen Bergen, und die Schneefelder blinkten noch immer herüber.

Hildegard fragte, ob sie gleich Teewasser holen solle, und ich murmelte schlaftrunken "Ja, aber probier mal einen anderen See." Allmählich wurde ich dann doch munter und begann mit der morgendlichen Räumerei. Schlafsack und Isomatte verstauen, Kleidungsstücke wegpacken, Überzelt zum Trocknen aufklappen - halt, das lassen wir bei dem Wind dann doch lieber - Kocher aufbauen, Wasser holen, - Moment - Wasser holen wollte doch die Hildegard? Wo bleibt sie denn? Am See war sie nicht zu sehen. Ach, sollte sie tatsächlich den nächsten See aufgesucht haben? Doch auch dort sah ich keinen Menschen. Wo war sie nur? Bestimmt klettert sie irgendwo in den Bergen herum. Ich begann also das Frühstück vorzubereiten. Hin und wieder blickte ich suchend zu den Gipfeln, und endlich entdeckte ich dann auch einen blauen Punkt, der fröhlich winkte.

Rallarvegen Sie sahen gar nicht so weit entfernt aus, die Berge. Ich war ihr ein Stück entgegengegangen, und selbst von diesem Platz aus war das Ziel ihrer Wanderung kaum zu sehen. "Da oben gibt es noch einen versteckten Wasserfall und einen See." Der See hatte tatsächlich das Wasser für den Frühstückstee geliefert. Nach dem Frühstück kletterte ich auch noch ein wenig die Einsamkeit genießend zwischen den Felsen herum. Aber als dann der "Verkehr" auf dem Rallarvegen zunahm, beluden auch wir die Räder und verließen unseren Rastplatz.

Die nächsten Stücke des Rallarvegen wurden recht anspruchsvoll. Es sollten die einzigen drei oder vier Kilometer des Urlaubs werden, bei denen wir mit einem Mountainbike ohne Gepäck wirklich deutlich besser zurecht gekommen wären. Teilweise machte uns lockerer Splitt zu schaffen, der aufgeschüttet wurde, damit die Baufahrzeuge während der Tunnelbauerei den Weg nicht beschädigen, teilweise bestand er wirklich nur aus grobem und losen Felsgestein. Eine Gruppe entgegenkommender Radler schaute recht demoralisiert drein, als sie uns bergab schieben sah. Doch die Natur rechts und links war auch diese Mühe wert. Moose, die in der Nähe kleiner Wasserfälle in kräftigem Grün leuchteten, Felsen im Sonnenschein, schmutzige Schneereste - es hatte alles seinen eigenen Reiz.

Schließlich erreichten wir die Stelle, die unser Radreiseführer bereits angekündigt hatte: Eine Kreuzung der Bahnstrecke im Schneetunnel. Das mag früher wirklich ein gefährlicher Punkt gewesen sein, jetzt fuhr dort kein Zug mehr entlang, und wir konnten den Schneetunnel in Ruhe von innen studieren. Es befand sich sogar ein zweites Stumpfgleis mit Laderampe in dem Tunnel, so daß auch im Winter Baumaterial angeliefert werden konnte, ohne den Zugverkehr zu unterbrechen.

Nun wurde die Landschaft ganz, ganz langsam wieder lebendiger. Wir bewunderten die weite Schleife, in der die alte Bahn ein Seitental ausgefahren hat und ließen uns auf dem nun wieder befahrbaren Weg mit wenig Kraftaufwand nach unten rollen. Tiefblaue Seen, in die mit gewaltiger Kraft weiß schäumend Wasserfälle hineinstürzten ließen uns anhalten, das Schauspiel zu genießen. Eine Eisenbahnbrücke überspannte ein Tal, in dem das Wasser jede Unterhaltung übertönend herabbrauste. Ein Haltepunkt war am Hang zu sehen, daneben die sechs Häuser, für die er angelegt wurde. Am Rand der Schlucht auf dem schmalen Weg zu fahren, ist nicht ganz ungefährlich, weil der Blick ins Tal immer wieder ablenkt. An einer Stelle kam uns ein Jeep mit Arbeitern entgegen. Ohne diesen sichtbaren Beweis hätte ich es für unwahrscheinlich gehalten, diesen Weg mit Autos befahren zu können.

Nein, wir wollten diese Landschaft nicht so schnell verlassen, und so lagen wir noch eine Weile an einem See in der Sonne, blickten in die Bergwelt hinein und genossen es aus voller Seele, Urlaub zu haben. Irgendwann fuhren wir dann doch weiter ins Tal hinab und bemerkten fasziniert die Veränderungen in der Landschaft. Plötzlich gab es wieder Bäume, der Weg führte durch den Wald, in Lichtungen blühten Blumen. Steil öffnete sich die Aussicht auf das Tal nach Flåm hinunter. Eigentlich führt der Rallarvegen dort hinunter, doch wußten wir von unserem Freund, daß dieser Weg zunächst nicht befahrbar ist für Räder mit Gepäck. Mehrere Hundert Höhenmeter bergab zu schieben ist nicht jedermanns Sache, und eine Fahrt mit der Flåmbahn bietet sich geradezu an. So wählten wir statt des steilen Abstiegs den ebenso steilen, aber kurzen Anstieg nach Myrdal und fanden uns plötzlich auf einen belebten Bahnhof wieder. Japanische und andere Reisegruppen waren dort versammelt, und fast alle wollten die Fahrt nach Flåm erleben.

Wir kauften Fahr- und Fahrradkarten, verbrachten noch etwas Zeit mit dem Begutachten der Ansichtskarten- und T-Shirt-Angebote und verluden unsere Räder in den Zug. Schon in den zwanziger und dreißiger Jahren wurde diese Bahn projektiert, doch wurden die Arbeiten immer wieder unterbrochen. Erst während der deutschen Besetzung gelang es, sie fertigzustellen, vor allem, weil sie militärische Bedeutung besaß. Jetzt jedoch war sie eine Touristenattraktion, und unser Zug fuhr an schönen Stellen besonders langsam, um allen den Ausblick zu ermöglichen. Einmal sahen wir die Gleise in mehreren Etagen liegen, dazwischen fuhr die Bahn große Kehren, um an Höhe zu verlieren. Am Wasserfall hielten wir an, jeder hatte die Möglichkeit, ein schönes Bild zu machen. Nach einer knappen Stunde waren wir in Flåm, Meereshöhe. Ich bewunderte eine E-Lok, die die steile Strecke als eine der ersten Loks befahren hatte und nun ausgemustert wurde. Sie verfügt über fünf verschiedene Bremssysteme, verriet ein Schild.

Auf der ebenen Straße entlang des Fjordes ging es nach Aurlandsvangen. Wie freuten sich unsere Räder, wieder ebenen Asphalt zu spüren und schneller als mit 10 bis 15 km/h zu rollen. Ich freute mich auch, daß sie der harten Beanspruchung durch den Rallarvegen gewachsen waren. Nur eine Schraube hatte sich gelockert, wie ich an dem fremden Geräusch schnell gemerkt hatte. Plötzlich öffnete sich eine Tunnelöffnung und pustete uns einen kalten Hauch entgegen. Ich griff schnell zum Dynamo, aber kein Licht leuchtete auf. Hildegard erlebte das gleiche. Inzwischen waren wir schon im gut beleuchteten Tunnel, und ich beschloß, daß wir weiterfahren. Leise fluchend auf den technischen Stand der Fahrradbeleuchtung im Zeitalter der Elektronik hofften wir, daß der Tunnel bald zu Ende sein möge. Es sollten ja nur 600 m sein, aber hat eigentlich schon mal jemand über eine mögliche Längendilatation bei bergauf führenden Tunneln nachgedacht? Jedenfalls waren wir sehr erleichtert, als wir leicht fröstelnd das Tageslicht wieder erreichten.

Bald hatten wir auch den Campingplatz gefunden, und während ich mich mit dem Zelt beschäftigte, huschte Hildegard schnell in die kleine Stadt, um noch etwas zum Abendbrot zu besorgen und nach der Anlegestelle der Fähre zu suchen. Mich interessierte besonders der Grund für die Beleuchtungsausfälle. Bei Hildegards Rad war die Ursache bald gefunden: Der Staub des Rallarvegens hatte nach der Durchquerung eines kleinen Baches am Walzendynamo eine feste Schicht gebildet. Nachdem ich die Klumpen mit der Hand entfernt und etwas an der Walze gedreht hatte, funktionierte das Licht wieder. Mein Rad gebärdete sich etwas widerspenstiger. Erst zwei Tage später begriff ich, daß der Leiter im Schutzblech (also nicht diese niedlichen Steckverbinder) gebrochen sein mußte und einen Wackelkontakt verursacht hat. Ich zog dann ein Zweitkabel und habe seitdem keine Probleme mehr.

Unser Zeltplatz war herrlich gelegen inmitten der steilen Hänge des Fjords. Wir waren auf einem großen Stück Wiese ziemlich allein, denn nach einer Ankunft auf so einem Platz liegen immer eine Menge Kleidungsstücke, Werkzeuge, Lebensmittel, Isomatten und anderes um das Zelt verstreut. Wir wirkten wohl auf die anderen Besucher, die nur einen Campingtisch mit Stühlen und sonst nichts außerhalb ihres Wohnmobils stehen hatten, ein wenig asozial. Dafür amüsierten wir uns herzlich über zwei Bitterfelder Familien, die ihre Wohnmobile in 2 m Abstand aufgestellt hatten, an der Rückfront eine Wäscheleine spannten und dazwischen Tisch und Stühle plazierten. Die verbleibende, vierte Seite zeigte auf die Straße. Wahrscheinlich ist so viel Natur ungesund, wenn man aus Bitterfeld kommt, ulkten wir.

Als ich mit dem zweiten Gang des Abendessens - einer Suppe - aus der Küche des Campingplatzes kam, tönte mir ein Schreckensschrei entgegen. Ich ging schnell alle möglichen Unglücke durch - vom Verlust der Reisekasse über den Ausfall diverser Utensilien, während ich Hildegard fragte, was denn los sei. Sie entgegnete mir mit einem Zitat aus der Tourenbeschreibung für den nächsten Tag, fügte aber noch hinzu, daß wir diese Strecke in der Gegenrichtung befahren müßten: "Sie nehmen die alte Serpentinenstraße, die mittels 13 enger Kurven 370 Höhenmeter fast senkrecht in die enge Kleivaschlucht führt. Die Bremsen müssen absolut in Ordnung sein, denn es tritt ein Gefälle von bis zu 20 % auf." Mit der Gewißheit, auch morgen einen interessanten Tag vor uns zu haben, schliefen wir ein.

Fjorde und Serpentinen

Donnerstag, 15. August 1996, 54 km

Wir hatten sehr gehofft, daß die Sonne noch rechtzeitig über die Berghänge kriechen kann, um unser Zelt zu trocknen. Wir konnten nicht beliebig lange warten, denn wir wollten unsere Fähre schaffen. Unsere Hoffnung wurde nicht enttäuscht. Während wir frühstückten, konnten wir beobachten, wie die Schattengrenze immer näher kroch, und schließlich erreichten uns die ersten wärmenden Sonnenstrahlen. Bald darauf saßen überall Menschen vor ihren Zelten und Autos beim Frühstück in der Sonne, nur die Bitterfelder aßen im Schatten ihrer Wohnmobile.

Es wurde dann etwas knapp mit der Packerei, und wir ließen einige Arbeitsgänge wegfallen, erreichten dafür aber die Anlegestelle zwei Minuten vor der geplanten Abfahrt. Früher war Aurland ein bedeutender Fährhafen, doch inzwischen fahren die Autos durch einen 11 km langen Tunnel von Flåm nach Gudvangen. Man spürt den Niedergang in der Stadt, die einkaufenden, wartenden Autofahrer fehlen. "Früher, ja früher fuhren die Fähren da drüben ab." hatte am Vorabend ein Einwohner auf Hildegards Frage geantwortet und dabei auf einen gewaltigen Kai mit mehreren Fahrspuren für wartende Fahrzeuge gezeigt. Aber wo sie jetzt abfahren wußte er nicht. Wir standen jetzt also an einem kleinen Kai, wo ein versteckter Zettel über Abfahrtszeiten informierte und warteten auf das Boot, das keine Autos mehr mitnahm.

Während der Fahrt durch den Aurlands- und Nærøyfjord wies eine Reiseleiterin mehrsprachig auf Besonderheiten rechts und links des Wassers hin. Da gab es Siedlungen, die wirklich nur per Schiff erreichbar waren. Einige Gehöfte erforderten zudem noch bergsteigerische Fähigkeiten, weil man nur über Leitern da hinaufgelangt. Von Zeit zu Zeit zeigten sich Wasserfälle, jeder einzelne ein kleines Wunder, und doch gewöhnt man sich allmählich an ihre Existenz. Einmal legten wir an einem der abgelegenen Dörfer an, weil einer der Passagiere aussteigen wollte. Viel zu schnell für die Menge der Eindrücke war die Fahrt zu Ende, und wir standen in Gudvangen wieder auf festem Boden und sahen zu, wie sich zwei Fähren über die Reihenfolge des Anlegens einigten.

In der Nähe der Tunnelöffnung, die die aus Flåm kommenden Autos ausspie, fuhren wir auf die große Straße und weiter durch das enge Tal. Einmal sahen wir eine weitere Tunnelöffnung an der Seite. Ob das einer der unterirdischen Steinbrüche ist, mit denen die Norweger die Zerstörung der Landschaft begrenzen wollen, oder ob da wirklich irgendwann der nächste Tunnel beginnt?

Blick nach Gudvangen Bis jetzt war ich recht optimistisch, daß die 13 Serpentinen am Ende dieses Tales schon nicht so schlimm werden würden, schließlich plätscherte uns ein Fluß entgegen, und der muß ja auch irgendwoher kommen. Dann sah ich plötzlich zwei Busse an der Felswand vor uns kleben. Eigentlich hätten sie herunterfallen müssen, aber offenbar war es doch gelungen, eine Straße in dieser Wand unterzubringen. Wenn dort sogar Busse fahren können, werden wir es auch schaffen, sagte ich mir. Und dann war das Tal zu Ende. Ein Wasserfall brachte das Wasser des Flüßchens ins Tal. Ein paar Hundert Meter vor uns sahen wir die Öffnung eines Tunnels, davor ein Schild, welches diesen Weg für uns ausschloß. Aber wir wurden ja nicht alleingelassen: Ein blaues Hinweisschild lenkte Radfahrer und Fußgänger in eine kleine Seitenstraße. Dieses blaue Radwegschild erscheint mir im Nachhinein als so absurd, daß es schon wieder lustig ist. Was nämlich nach wenigen Metern auf der kleinen Straße begann, schob die Grenzen meiner Erfahrung ein ganzes Stück hinaus. Nach drei Serpentinen hielt ich schnaufend an und fand bestätigt, was eigentlich bekannt ist: Der Kreislauf setzt hier die Grenzen, nicht die Muskeln. Ich versuchte, das Rad zu schieben, aber das war praktisch unmöglich. Die Fahrt mit einer guten Untersetzung war leichter. Hildegard schob ein Stück und mußte auf der Straße in Serpentinen laufen, weil es sonst zu steil war. Irgendwann kam das erste Erfolgserlebnis: Wir sahen die Abzweigung mit dem ulkigen Radweghinweis tief im Tal liegen. Ein Bus bog gerade in die Straße ein. Für uns ein willkommener Anlaß, erst einmal zu warten und den Bus vorbeizulassen. Dann kam die Serpentine, von der aus man den Wasserfall so schön sehen konnte, die Serpentine, wo ich meinen Film wechseln mußte, die Serpentine, wo wir Traubenzucker aßen und die Serpentine, wo wir etwas tranken. Ich nahm immer an der Außenseite der Straße etwas Schwung, dann reichte die Kraft gerade bis zur nächsten Kurve. Auch das Schauspiel zweier sich begegnender Busse durften wir erleben. Ein Wohnmobilfahrer hatte danach arge Probleme, sich an einem Bus vorbeizuquetschen. In Norwegen ist der Begriff "Wohnmobilfahrer" ein Schimpfwort - hier konnte man sehen, wieso. Selbst mit einem vertrauten Fahrzeug ist die Straße kompliziert. Ein Mountainbiker überholte uns, aber ohne Gepäck. Ich entsann mich, daß meine Eltern dieselbe Straße während einer Norwegenreise im Bus befahren hatten. Sie berichteten mir damals von einem Radfahrer, der die Reisegruppe beeindruckte. Nun lieferten also wir für ein gutes Dutzend Reisegruppen einen Punkt für spätere Urlaubserzählungen.

Wir waren sehr froh, als wir endlich oben ankamen. Ich spürte die hohe Belastung in meinen Knien, und im Hotel am Aussichtspunkt stürzte ich erst einmal in die Waschräume, um mir den Schweiß aus den Augen zu spülen. Wir genossen inmitten vieler anderer Touristen die Aussicht. Als ich noch ein wenig auf Hildegard warten mußte, die auch noch schnell die guten Waschräume ausnutzte, konnte ich ein Pärchen beobachten, das aufmerksam unsere Räder studierte. Detail für Detail wurde untersucht, und er schilderte ihr offenbar Vorzüge und Nachteile unserer Technik. Ich beobachtete die Szene amüsiert aus dem Hotel heraus, doch als wir dann unsere Räder wieder bestiegen, waren die beiden schon weg.

Nun ging es sanft bergab, ein Luxus, den wir uns redlich verdient hatten. Wir frischten an einem Supermarkt die Vorräte auf und wählten an den Seen jeweils die kleine Straße auf der der Fernverkehrsstraße gegenüberliegenden Seite. Das kostete uns zwar einige zusätzliche Höhenmeter, brachte aber auch Ruhe und Schutz vor dem Verkehr. Ein Mann in einem Garten sprach mich an, als ich einmal kurz anhielt. Er beglückwünschte uns zu dem Wetter, es wären nach regenreichen Wochen die ersten schönen Tage, meinte er. Wir hätten seiner Meinung nach auch ruhig durch den Tunnel fahren können, das würden die anderen auch so machen, ergänzte er noch, als wir erzählten, woher wir kamen.

Während einer Pause am See genossen wir den Räucherfisch und andere leckere Dinge. Ein touristisch bedeutsamer Wasserfall an einem Campingplatz ließ uns noch einmal Halt machen. Ein Bus spuckte seinen Inhalt aus, und die Menschen stürzten mit Flaschen bewaffnet zu dem Naturschauspiel. Offenbar hatte man ihnen gerade erzählt, daß in Norwegen das Wasser aus den Bächen und Flüssen und insbesondere aus diesem Wasserfall trinkbar sei, jedenfalls füllten sie ihre Flaschen und kosteten das Naß. Schön war es hier, doch ein Stückchen wollten wir heute noch weiterfahren.

Die Straße um den nächsten See führte ständig steil bergauf und bergab, aber jeweils nur wenige Höhenmeter. Wären die Huckel zehnmal kleiner, könnte man sie schon fast als grobes Kopfsteinpflaster bezeichnen. Es fuhr sich sehr seltsam, der Tachometer pendelte pausenlos zwischen 10 und 40 km/h. Es war abzusehen, daß Voss unser Etappenziel werden würde. An einer Kaufhalle kauften wir gefrorene Lachssteaks für das Abendbrot und etwas Quark, um eine Sauce zu bereiten. Eine Flasche Lettøl tranken wir gleich an der Kaufhalle gemeinsam aus. Ob das in Norwegen nicht üblich ist? Wir wurden jedenfalls sehr aufmerksam gemustert.

In Voss fanden wir den gut gefüllten Campingplatz und bauten zwischen zwei Gruppen französischer Jugendlicher auf. Die einen reisten mit Erwachsenen und Kleinbussen, die anderen hatten sehr junge Betreuer und kamen ohne Autos. Es war interessant, dem abendlichen Lagertreiben zuzusehen, während Hildegard den Lachs braten ging. Als sie wiederkam, hatte sie Lachs und Reis, aber keine Sauce, denn der Quark entpuppte sich als eine Art süßer Schmelzkäse mit leichter Ähnlichkeit zu Erdnussbutter. Ein Übersetzungsfehler also. Den Norwegenreisenden ist vielleicht "Prim" ein Begriff, wir mußten das erst lernen, und die erste Bekanntschaft unserer Gaumen mit dieser seltsamen Masse erweckte keine Begeisterung. Bloß gut, daß der Lachs von dem Zeug verschont blieb, so ließen wir uns erst einmal das Abendbrot schmecken und verschoben die weitere Untersuchung des Prims auf den Morgen.

Ein Spaziergang am See beendete diesen Tag.

Voss - Kinsarvik

Freitag, 16. August 1996, 74 km

Bei Voss Voss verlassend gerieten wir auf einen Radweg, der auf einem alten Bahndamm angelegt wurde. Bis 1985 verkehrten noch Züge auf diesem Ausläufer der Bergenbahn. Eisenbahnen haben eine relativ geringe Maximalsteigung, und so konnten wir auf einer guten Asphaltdecke ganz allmählich an Höhe gewinnen. Die Bahnsteige konnten wir nicht nutzen, aber der Tunnel war toll! Wann erlebt man schon einmal einen Radweg mit Tunnel?

Auf der Straße sollte jetzt ein großer Wasserfall sichtbar werden. Sollten wir auf die Straße wechseln oder auf dem Radweg bleiben? Die Entscheidung wurde uns von vorausschauenden Planern abgenommen, der Radweg führte auf die Straße zurück, und wir pausierten zunächst am oberen Ende des Wasserfalls, wo an einem Kiosk ausgezeichnete "Fish and Chips" verkauft wurden. Dann ging es in rasanten Serpentinen ins Tal hinunter, um auch den Anblick von unten genießen zu können. Recht frisch war es geworden, insbesondere bei der Talfahrt, deswegen war es gar nicht so schlecht, die Fernverkehrsstraße verlassen und uns auf einer kleinen, ruhigen Nebenstraße wieder nach oben winden zu können. Die Pilze am Straßenrand lockten uns sehr, doch weil der Transport kompliziert und die Chance zur Zubereitung noch in weiter Ferne lag, ließen wir sie stehen. Aber Heidelbeeren naschten wir, und das sogar im Stehen, weil der Hang so steil war. Inzwischen bohrte der Ständer von Hildegards Rad ein Loch in den Asphalt. Merkwürdiges Material.

In 343 m Höhe fuhren wir an einem wunderschönen See mit einem abgelegenen, einsamen Campingplatz vorbei. Als dann während der Abfahrt ein Rastplatz an einem kleinen Wasserfall auftauchte, machten wir noch einmal Pause. Natürlich stand auch jetzt - wie zu jeder weiteren Mahlzeit - der Prim wieder mit auf dem Tisch, und ich aß jedesmal brav eine Schnitte mit dem ungewohnten Belag. So nach und nach kann man an dieser seltsamen Masse sogar Gefallen finden, doch es war abzusehen, daß der Urlaub nicht reichen würde, die Schachtel zu leeren.

Rasch fuhren wir hinunter nach Ulvik, einem Touristenort, der jetzt verschlafen wirkte, weil keine Kreuzfahrtschiffe kamen. Ganz anders wirkte dieser Fjord - sanfte Hänge am Ufer, Obstbäume, Wiesen, viel lieblicher als vor zwei Tagen in den Ausläufern des Sognefjordes war es hier.

Relativ eben führte die Straße am Ufer entlang nach Bruravik, wo wir sofort bis auf die Fähre fuhren und ohne Zeitverlust ablegten. Von Brimnes rollten wir noch 20 km am Südufer des Eidfjordes entlang. Von Zeit zu Zeit schraubte sich die Straße ein paar Dutzend Meter empor, um Landzungen abzuschneiden. Aber die Anstrengungen hielten sich in Grenzen, und wir konnten den Blick auf den Fjord mit seinen Schiffen und den Obstplantagen an den Ufern auf uns wirken lassen. Überall priesen Schilder Kirschen an. Irgendwann wurden wir dann schwach, legten 20 Kronen in das bereitstehende Körbchen und nahmen eine Schale Kirschen mit.

In Kinsarvik gibt es drei Campingplätze, was die Auswahl schwierig machte. Wir entschieden uns dann für das Modell mit den drei Sternen. Der war erstaunlich billig für seine drei Sterne bis wir merkten, daß jede Leistung extra bezahlt werden sollte - selbst das heiße Wasser zum Geschirrspülen kostete ein paar Kronen. Die meisten dieser Leistungen benötigten wir aber sowieso nicht, so daß es ein billiger, schöner Platz für uns blieb. Gleich in der Nähe unseres Zeltes befand sich der Eingang zum Swimmingpool, und so hatten wir noch eine Art Fernsehen beim Abendbrot, weil wir die Kinder und Erwachsenen am und im Wasser beobachten konnten.

Hardangerfjord

Sonnabend, 17. August 1996, 54 km

Kinsarvik liegt in einer geschützten Bucht. Schon die Wikinger nutzten diese Gunst der Natur und bauten um 900 hier Schiffe. So war es ganz natürlich, daß wir den Ort per Schiff verließen und erst in Utne wieder richtig in die Pedale traten. Heute trieb uns ein wenig die Eile. Wir hatten an den vergangenen Tagen immer mal Blicke auf die Wetterkarten der Zeitungen geworfen. Letztens war ganz Europa von dichten Regenwolken überzogen gewesen, und nur zwei Sonnen verbreiteten Optimismus. Die eine bräunte die Urlauber in Griechenland, die andere beschien unseren Weg. Auch die norwegischen Karten wiesen meist nur wenige Flecke mit Sonne oder heiterem Himmel auf, meist dort, wo wir gerade radelten. Doch heute malten die Meteorologen das ganze Land voller dicker schwarzer Wolken. Wir akzeptierten das, denn wir näherten uns ja der Regenstadt Bergen, doch wollten wir jede trockene Stunde nutzen.

Hardangerjord Es waren keine großen Höhenunterschiede zu erwarten, trotzdem konnte man die Straße nicht als eben bezeichnen. Ein Haus verlockte Hildegard zum fotographieren. Als sie nach einer geraumen Weile immer noch nicht auftauchte, fuhr ich die 100 m zurück und kam gerade zurecht, um mitzuerleben, wie ihr ein dreijähriger Steppke ein Schälchen mit Erdbeeren schenkte. Den Bewohnern gefiel unsere Art zu reisen, und nach ein paar Minuten verabschiedeten wir uns mit guten Wünschen voneinander.

Ein kleiner Paß war zu überwinden, danach hielten wir an ein paar Felszeichnungen aus der Wikingerzeit. Gleich neben der Straße lagen die Felsen, eine Tafel erklärte ihren Ursprung, und die Striche unserer Vorfahren wurden durch rote Farbe auch unseren ungeübten Augen sichtbar gemacht. Wir aßen an dem geschichtsträchtigen Platz gleich Mittag.

Zwei Tunnel mußten im weiteren Verlauf der Strecke durchquert werden. Sie waren unbeleuchtet, doch diesmal funktionierte das Licht an beiden Räder zuverlässig. Wieder einmal rollten wir ohne Wartezeit in Jondal auf die Fähre, die uns über den Hardangerfjord nach Tørvibygd übersetzte. Im Frühling muß es hier wunderschön sein, wenn die Obstbäume blühen und auf den Bergen noch Schnee liegt.

Auf der Nordseite des Fjordes fuhren wir noch einige Kilometer weiter nach Westen, kamen dabei an einigen Hausruinen und einer Festungsanlage vorbei. Schließlich erreichten wir nach einem weiteren kurzen Tunnel unser Ziel, einen Campingplatz, der voller Wohnmobile stand und sehr einfach ausgestattet war. Dafür bot er einen Strand am Fjord, so daß wir noch ein Bad in der abendlichen Sonne nehmen konnten - der angekündigte Regen war ausgeblieben. Wolken, Sonne, Berge und Wasser spielten mit kontrastrierenden Farben. Schade, daß man dieses Panorama, zu dem nicht nur das Bild für die Augen, sondern auch noch ein sanfter Wind auf der Haut, klare Luft und das beruhigende Brummen des Kochers gehörten, nicht einfangen und festhalten konnte. Neben uns bauten ein paar Amerikaner ein zweites Wanderzelt auf. Als die Zeltplatzverwalterin erschien, mußten sie auf einen anderen Platz umziehen. Uns befremdete das etwas, waren wir doch von den Norwegern bisher unkompliziertes Entgegenkommen gewohnt. Im Gespräch mit den Amerikanern erfuhren wir dann den Grund für das merkwürdige Verhalten: Die Wiese war direkt an der Straße gelegen, und am Sonnabend kommen manchmal angetrunkene Autofahrer vorbei, die die Kurve nicht bewältigen und dann auf den Zeltplatz hinunterfahren. An der Böschung konnte man die Spuren des letzten Vorfalles noch erkennen. Wir waren erstaunt, beschlossen jedoch, nicht weiter darüber nachzudenken. Die Nacht verlief dann auch sehr ruhig, ich kann mich nicht entsinnen, überhaupt ein Auto gehört zu haben.

Verkehrskontraste

Sonntag, 18. August 1996, 84 km

Heute sah man uns für unsere Verhältnisse relativ zeitig auf der Straße, denn wir hatten ein Tagesziel, das wir gern erreichen wollten: Bergen. Trotzdem hatte der Morgen genug Zeit für ein Bad im Fjord geboten. An der Küste entlang radelte es sich wunderbar unter dem bedeckten Himmel. In "Oma" fotografierten wir das Ortsschild, wobei mir wieder einmal auffiel, daß es zwar viele Ortseingangs- aber keine Ortsausgangsschilder gab. Bei den weit verstreuten Gehöften der meisten Ortschaften wußte ich oft erst dann sicher, daß wir den Ort verlassen hatten, wenn wir den nächsten erreichten.

Einmal sahen wir zwei Mountainbiker hinter uns herkommen. Aber als sie uns dann nicht überholten, vermuteten wir, daß sie auf eine andere Route abgebogen waren. Im Fjord sah man Lachsfarmen. Unaufhörlich sprangen dort die begehrten Fische umher. Ich lernte später, welche Probleme die zunehmende Zahl dieser Farmen den Fjorden beschert. Das Fleisch der Zuchtlachse ist zudem nicht so schmackhaft wie echter Wildlachs, und auch die Tierschützer haben Einwände gegen diese Zuchtmethoden. Es gibt inzwischen ein ausreichendes Angebot an Lachs, und die Experten rechnen sogar mit einem Überangebot in nächster Zeit.

Über einige Hügel, die auch eine kurze Pause erforderten, gelangten wir an den Eikelandsfjord. Am höchsten Punkt überlegten wir, ob wir dem Wegweiser zu einer Kirche aus dem Jahre 1306 folgen sollten. Aber da die Entfernungsangabe keine Höhenmeter enthielt und wir noch eine ganze Menge Kilometer vor uns hatten, verzichteten wir auf den Abstecher. Als wir bergab zu rollen begannen, erreichten uns die beiden Mountainbiker, die wir schon fast wieder vergessen hatten. Langsam schneller werdend fuhren wir nebeneinander her, und ich erfuhr, daß die beiden Freunde aus Bergen und Stavanger stammten und für ein paar Tage per Rad unterwegs waren. Heute wollten sie genau wie wir noch nach Bergen, dem Endpunkt ihrer Tour. Inzwischen zeigte der Tachometer schon knapp 40 km/h, und ich deutete an, daß ich nun lieber wieder alleine fahren wollte. Hildegard war schon ein ganzes Stück vorausgerollt. So ließ ich meine Bremse ganz los und die beiden verschwanden nach hinten aus meinem Blickfeld. Die Abfahrt genießend, rollte ich hinter Hildegard her, als wir heftiges Schnaufen hörten und unsere Verfolger kräftig tretend an uns vorbeizogen. Die Masse unseres Gepäcks verlieh uns genug Energie, um im Tal ohne zu treten erneut an ihnen vorbeizurollen. Das Wetter drohte mit Regen, und die Straße bot freie Fahrt, so traten wir bald wieder mit gewohnter Kraft in die Pedale und verloren die Mountainbikes schnell aus den Augen.

Viele Radreisende denken bei Norwegen an Berge, und bei Bergen an Mountainbikes. Doch auf den hervorragend asphaltierten Straßen kosten die dicken Reifen und vor allem deren Noppen viel Kraft. Unsere Reiseräder mit vergleichsweise schmalen Reifen, aber einer weitreichenden Gangschaltung und komfortabler Sitzhaltung mit vielen Griffpositionen waren den Anforderungen unserer Tour weitaus besser angepaßt. Nur auf dem Rallarvegen waren uns die Mountainbikes deutlich überlegen. Ich kann jedem Reiseradler für Touren, wie es die unsere war, nur zu einem klassischen Reiserad raten, einem Reiserad, wie es sie leider nur selten im Handel gibt.

Eigentlich wollten wir ja noch eine Pause machen und etwas essen, doch es fand sich kein geeigneter Platz, und wir fuhren mit für uns recht hoher Geschwindigkeit bis nach Vengjaneset zur Fährenanlegestelle durch. Dort gab es einen Kiosk, und nach unseren guten Erfahrungen vor zwei Tagen bestellten wir wieder "Fish and Chips". Nach einer geraumen Weile hielten wir unsere Portionen in den Händen, und genußvoll kauend konnten wir die gleichzeitige Ankunft von Fähre und unseren Mountainbikern beobachten. Jetzt sah ich mir die Räder genauer an: Die Aufschrift "Finse 1222" sagte, daß es Leihräder waren, und ich erfuhr, daß die beiden auch den Rallarvegen entlanggefahren waren. Unsere Erzählungen über diesen Weg stießen jedoch auf Unglauben - mit solchen bepackten Reiserädern kann man doch dort gar nicht fahren! Jedenfalls hatte mein Gesprächspartner Knieprobleme und wollte die letzten Kilometer mit dem Bus nach Bergen fahren.

Wir quälten uns den üblichen, einer Fährfahrt folgenden Anstieg hinauf und fuhren nach Os. Urplötzlich fanden wir uns im brausenden Verkehr wieder. Eine Kolonne schwerer Motorräder zwischen Unmengen PKWs dröhnte an uns vorüber. Sonntagabend, die Völkerwanderung zwischen Wochenendhaus und Stadt war in vollem Gange. Linksseitige Radwege erhöhten die Gefahren für uns Ortsfremde noch einmal, und wir waren froh, die E1 verlassen zu können und auf einer kleineren Küstenstraße in Richtung Bergen zu fahren. Am Zistersienserkloster Lyse pausierten wir und schlenderten zwischen den Mauerresten aus dem Jahre 1146 umher. Erstaunlich, wieviele Menschen diese 1828-1838 ausgegrabenen Gemäuer besichtigten.

Nach einem kurzen Schlaf auf der Wiese fühlten wir uns gewappnet für die angekündigten 300 Höhenmeter, die uns noch von Bergen trennten. Zunächst ging es aber auf Meeresspiegelniveau hinab, denn schließlich muß die Leistung komplett erbracht werden. Die ruhige Straße war offenbar auch den Norwegern als Schleichweg bekannt, und auf einer schmalen, stark befahrenen Straße macht es überhaupt keinen Spaß, bergauf zu fahren. Wir hielten immer mal an, denn die Kilometer des Tages waren inzwischen auch deutlich zu spüren.

Als wir uns langsam einer scharfen Kurve näherten, hörte ich von hinten das typische Geräusch eines Autos, dessen Fahrer denkt, mit Schwung noch schnell überholen zu können. Gleichzeitig sah ich, wie sich die Ecke eines Busses langsam um die Felskante schob. Ich streckte die flache Hand zur Seite, hoffend, daß die Geste schnell und vor allem richtig interpretiert wird. Kräftiges Bremsen hinter mir ließ mich aufatmen, und ich schob mich an dem Bus, der zwei Drittel der Straße beanspruchte, vorbei. Als danach der Jeep auf übersichtlicherer Strecke überholte, bedankte sich der Beifahrer durch einige Gesten überschwenglich bei mir.

Auch wenn es während unserer Urlaubes ein-, zweimal solche Situationen gab, so hatte ich auf Norwegens Straßen doch ein ausgesprochen sicheres Gefühl. Auch auf dieser schmalen Straße, die wir nur mit 5 bis 7 km/h emporkrochen, wurden wir nicht angehupt, alle Verkehrsteilnehmer waren nicht nur auf dem Papier gleichberechtigt sondern verhielten sich auch so. Natürlich fahren auch in Norwegen nicht nur Engel herum, und bei manchen Überholmanövern hoffte ich sehr, daß die Fahrer wissen, was sie tun. Der Rückblick auf die drei Wochen zeigt mir trotzdem ein freundliches Straßenklima.

Inzwischen hatten wir den 300-m-Paß und mit ihm eine Ausflugsgaststätte mit Tierkindergarten erreicht. Es schien uns unvorstellbar, mit welcher Leichtigkeit wir vor wenigen Tagen Pässe von mehr als 1000 m Höhe bezwungen hatten, so sehr strengten uns diese harmlosen 300 m an. Wir gönnten uns erst einmal Eis und Kaffee, bevor wir auf der anderen Seite nach Fana hinunterschossen. Ab jetzt wurde das Profil leicht, der Verkehr erträglich, die Siedlungsdichte hoch. Wir wußten, daß Bergen selbst per Rad nur mühevoll zu erreichen ist und steuerten deswegen die Zeltplätze von Nesttun an. Ein Stück fuhren wir auf einer stillgelegten Bahntrasse in eleganten Kurven in die Stadt hinein, doch dann mußten wir uns erneut dem starken Verkehr stellen. Trotzdem fuhren wir am ersten Zeltplatz ohne zu zögern vorbei, denn auf einem Fußballplatz wollten wir nicht zelten. Etwas weiter zeigte sich dann ein kleiner Platz zwischen Straße und See, und da wir die Straße inzwischen satt hatten, beschlossen wir, hier zu bleiben.

Mühevoll preßte ich die Häringe in den harten Boden, während Hildegard am Kiosk unser Abendessen zu bereichern suchte. Danach konnte ich andere Camper beobachten, wie sie ähnliche Probleme zu bewältigen hatten. Glück für den, dessen Zelt notfalls auch ohne Häringe steht. Allmählich füllte sich der zunächst recht leere Platz. Zwei niederländische Mädchen bauten ihr Zelt neben unseres, etwas weiter standen ein paar Österreicher, die uns ihre Streichhölzer schenkten, nachdem sie meinen Kampf mit dem Kocher im Wind beobachtet hatten. Schließlich erschienen noch zwei Tramper aus dem Saarland und wählten ebenfalls einen Platz neben uns. Der Boden ließ es vernünftig erscheinen, einmal festsitzende Häringe doppelt zu nutzen, Hildegard löste das Verständigungsproblem zwischen Niederländerinnen und Saarländern. Endlich hing dann auch die Wäsche auf der zwischen Zelten und Fahrrädern gespannten Leine, der Kocher kochte, und es zog Ruhe in unser Lager ein, die nur vom gelegentlichen Haschen nach vom Wind entführten Plastiktüten gestört wurde. Auch die Räder mußten noch besser verankert werden, weil die Wäsche wie ein Segel wirkte und den Ständer überforderte.

Ein dreigängiges Menue hatten wir geplant: Auf eine Suppe folgte gebratener Fisch mit Reis. Den Abschluß bildete Obst. Nachdem die Saarländer gelernt hatten, daß in ganz Norwegen am Sonntag kein Bier verkauft wird, luden wir sie zu Tee mit Rum ein. Rum besaßen wir wirklich ausreichend, denn er sollte Regentage erträglich machen und bei eventuellen Problemen auch als Zahlungsmittel dienen. Nun hatten wir aber weder Regentage noch Probleme, und ich war es allmählich leid, diese Flüssigkeit über alle möglichen Berge zu schleppen. So fand also eine (bereits angebrochene) 0.35-Liter-Flasche an diesem fröhlichen Abend ihr Ende, und wir erzählten noch bis spät in die Nacht von früheren Reisen, Lebensplänen und norwegischen Episoden. Unsere Gäste waren angenehme Gesprächspartner, die viel erlebt hatten und ihre Erlebnisse auch unterhaltsam wiederzugeben wußten. Ich denke gern an diesen Abend zurück und bedauere es etwas, während des Urlaubs nicht häufiger solche Menschen getroffen zu haben.

Schließlich krochen wir ins Bett, denn unsere Unterhaltung drang bis in die benachbarten Zelte, und wir wollten die Toleranz der anderen Camper nicht zu sehr strapazieren.

Bergen

Montag, 19. August 1996, keine Fahrradkilometer

Um sieben Uhr schaltete jemand den Verkehr auf der Straße an. Ich versuchte, weiterzuschlafen, doch als immer mehr Sattelschlepper durch meine Träume kreuzten und ich alle möglichen Ideen, sie zur Ruhe zu bringen, entwickelte, stand ich dann doch lieber auf. Auf den bisherigen Plätzen flogen uns manchmal von Campingtischen und aus Hauszelten mißbilligende Blicke zu, wenn wir auf dem gepflegten Rasen frühstückten. "Wie kann man nur von der Erde essen?" lautete die unausgeprochene Frage mancher Camper. Hier saßen nun die Rucksackreisenden auf einigen Grashalmen, die sich mühevoll durch den irgendwann mal dort verteilten Split gekämpft hatten und breiteten einträchtig ihre Lebensmittelvorräte vor ihren Zelten aus. Wie ungerecht doch die Zeltplätze verteilt sind ...

Ich bot unseren Nachbarn Prim an, die bekannte norwegische Spezialität. Als Dank erhielten wir ein Nutellaglas, das noch genug Creme für unser Frühstück enthielt, von den beiden aber nicht weiter mitgeschleppt werden wollte. Hildegard meinte später, daß ich Händler werden sollte, als ich stolz die schon fast zur Hälfte leere Prim-Dose zeigte.

Brygge in Bergen Wir hatten den Busfahrplan studiert und zogen gemeinsam mit den beiden Saarländern los, denen es in Bergen zu laut und hektisch war. Unsere Entscheidung, mit dem Bus in die Stadt zu fahren, erwies sich spätestens auf den mehrspurigen Stadtautobahnen als richtig. In Bergen angekommen, verabschiedeten wir uns von unseren Begleitern, die es in Richtung Süden zog, und wandten uns dem Markt zu. Wer den Groningener Fischmarkt kennt, empfindet die Bedeutung, die dem Bergener Markt zugemessen wird, als etwas weit hergeholt. Wir genossen den Anblick der bunten Stände mit vielerlei Fischen, doch waren wir nicht übermäßig überrascht oder beeindruckt. Nachdem wir den Wunsch einiger Yachtbesitzer nach Bewunderung erfüllt hatten, (Es macht schon mal Spaß, sich die Schiffe anzusehen.) schlenderten wir zur Brygge. Dieses Ensemble aus ineinander verknäuelten Holzhäusern ist wirklich einzigartig. Die originale Brygge zerstörte 1702 ein Brand, doch auch die Rekonstruktion blieb nicht vom Feuer verschont und wurde 1955 teilweise eingeäschert. Doch dadurch konnten Hinweise auf den Ursprung der Stadt freigelegt werden, so daß das Unglück auch sein Gutes hatte. Wir besichtigten also die neuen alten Häuser und konnten hier noch etwas vom Trubel zur Zeit der Hanse, von Solidität und Reichtum der Handelsstädte erahnen. Weiter führte uns der Weg zur Bergenhus-Festung aus dem dreizehnten Jahrhundert, die die Einfahrt zur Stadt beherrscht. Das Wecken um 7.00 Uhr zeigte jetzt Wirkung, und mit Blick auf Hafen und Meer schliefen wir im Gras der Festungswälle ein. Munter wurden wir wieder, weil eine Reisegruppe die Festung und uns besichtigte.

Ein Bummel durch die Straßenzüge der Altstadt führte uns zurück zum Fischmarkt. Straße - das kann in einer Stadt wie Bergen auch mal eine Treppe sein, und auch die Breite scheint nach unten nicht begrenzt zu werden. Auf dem Fischmarkt versorgten wir uns mit dem Abendbrot-Fisch und kosteten gleich noch eine Krabbe, die sich selbst püriert als Paste enthielt. Da das noch kein vollwertiges Mittagessen war, ergänzten wir es in einer Konditorei durch Torte und Kaffee.

Das Geld wurde knapp, und in Bergen sollte es keine Probleme bereiten, eine Post zu finden. Wir fanden die Hauptpost, jedoch auf der falschen Seite und liefen viele Meter durch futuristische Gänge, bis wir in einer gewaltigen Schalterhalle standen. Ein Automat spuckte Zettel mit Nummern aus, und wir sahen, daß erst Kunden mit Nummern weit über Hundert unter unserer aufgerufen wurden. Aber es schienen auch viele Leute nicht lange genug gewartet zu haben - oft meldete sich niemand. Da es bei einem Dutzend geöffneten Schaltern recht zügig vorwärts ging, warteten wir brav. Wenn die Leute nur kleine Anliegen hatten, war das System der Nummernverteilung die eigentliche Bremse im Ablauf, denn man mußte dem Besitzer einer Nummer ja mindestens ein paar Sekunden Zeit zum Reagieren geben, bevor die nächste Zahl an einen anderen Schalter gelenkt werden konnte. So kam es, daß an einigen Schaltern die Angestellten eine ganze Weile warten mußten, bevor ihnen diese ausgeklügelte Warteschlangenverwaltung neue Kunden bescherte.

Mit frischem Geld ausgerüstet, stürzten wir uns in die Kaufhäuser. Nein, natürlich kauften wir nicht ein, wie hätten wir es auch transportieren sollen. Der Bummel durch das große Warenhaus zeigte letztendlich nur, daß Einkaufszentren sich überall ähneln und kaum die landestypischen Besonderheiten vermitteln können. So fand der Streifzug bald sein Ende und wir schlenderten zum Meeresaquarium. Wir hatten viel Zeit für dieses Museum mitgebracht, das wir zunächst einmal umrundeten, bevor wir den durch Baumaßnahmen etwas versteckten Eingang fanden. Das Aquarium kann sich durchaus mit anderen Einrichtungen dieser Art vergleichen. Wir waren ausgeruht und aufnahmefähig, und die meist mehrsprachig ausgeführten Erklärungen fielen auf fruchtbaren Boden. Zunehmend begeistert studierten wir die Fauna der Meere. Der Film im Rundumkino war wenig überzeugend, doch die Becken, die sowohl über als auch unter Wasser Einblick bieten, lohnen den Besuch. Die abendliche Fütterung der Pinguine und Seelöwen offenbarte, daß es genug zu essen gibt. Regelrecht interesselos beobachteten einige Tiere die ihnen zugeworfenen Fische. Nach vielen Stunden verließen wir mit Blick auf den Busfahrplan das Aquarium und kehrten in die Innenstadt zurück.

Normalerweise fahren Busse in etwa dort ab, wo sie ankommen. Doch dort, wo wir am Morgen ausgestiegen waren, verkehrten nur Stadtbusse, und die Wartenden wußten auch nicht, ob unser Fernbus hier noch irgendwo hält. Also eilten wir zum Busbahnhof und wurden mit einer Unzahl von ausschließlich unterirdisch erreichbaren Bussteigen und einer mißverständlich formulierten Abfahrtstafel konfrontiert. Der erste Bussteig, den wir aufsuchten, war zwar nicht völlig falsch, doch auch nicht völlig richtig. Es gibt eben Schnellbusse und normale Busse, und nicht jeder hält überall. Nach einigen Satzwechseln hatten wir das begriffen und stürzten auf der Suche nach dem richtigen Bussteig los. Hildegard gelang die richtige Interpretation der Fahrpläne, und gemeinsam mit dem Bus erreichten wir die Plattform. Erleichtert sanken wir in die Sitze. "Mehr wäre überrissen!" zitierte ich, nun wieder fröhlich, einen Freund zum Thema perfektes Timing.

Auf dem Zeltplatz begrüßten uns zwei mir fremde Niederländer mit der Bemerkung, daß sie uns auf der Festung schlafen gesehen hätten. Ich war ziemlich verdutzt, erfuhr dann aber, daß Hildegard mit den beiden bereits am Vortag ein paar Worte gewechselt hatte. Wir schilderten uns unsere Reiseabenteuer, dann widmeten wir uns unserem Fisch und schliefen mit dem Tag zufrieden ein.

Inselhüpfen

Dienstag, 20. August 1996, 83 km

Auf das pünktliche Wecken durch den Verkehr konnten wir uns verlassen. Doch heute hatten wir uns darauf eingerichtet. Wir wollten mit mehreren Fähren fahren, deren Abfahrtszeiten wir nicht kannten. Deshalb war es besser, früh aufzubrechten.

Wir stürzten uns in den Vormittagsverkehr. Doch die Route, auf der wir nach Nesttun gekommen waren, entpuppte sich nun als Einbahnstraße. Den Wegweisern folgend, fanden wir einen anderen Ausgang, ein kleiner Hügel, eine schnelle Abfahrt, aha - hier also links einbiegen, und plötzlich fanden wir uns auf einer Fernverkehrsstraße wieder, Leitplanken zu beiden Seiten, ununterbrochener Autoverkehr, vor uns eine Tunnelmündung ohne Längenangabe und ein Verbotsschild für Radfahrer. "Da fahre ich nicht durch!", rief Hildegard hinter mir. Zugegeben, wir kannten weder Länge noch Profil des Tunnels. Doch wenden war auf dieser Straße auch nicht ohne. Was sollte ich jetzt vorschlagen oder tun? Da schoß ein Rennfahrer aus dem schwarzen Loch. "OK, ich fahre doch durch." hörte ich hinter mir die Reaktion. Ich bin dem unbekannten Rennfahrer noch heute dankbar. Der Tunnel war beleuchtet und nicht sehr lang, die Fahrbahn breit, und unsere Beleuchtung funktionierte vorschriftsgemäß. So war die Fahrt ungefährlich, nur bereitet so ein kaltes Tunnelloch eben starkes Unbehagen.

Als wir wieder Tageslicht erreichten, kam uns ein Meer von Blaulichtern entgegen. Ich staunte nicht schlecht, hatte aber überhaupt keine Bedenken. Hildegard erzählte mir später, daß sie fest damit gerechnet hatte, nun einen Konflikt mit der Polizei austragen zu müssen. Daran dachte ich in dem Moment überhaupt nicht, vielmehr suchte ich die Limousine, die dieser Pulk doch verbergen mußte. Da war sie! Meiner Meinung nach saß dort das norwegische Königspaar drin. Das ist gar nicht unwahrscheinlich, denn in Bergen befindet sich die Sommerresidenz.

Am nächsten Kreisverkehr bogen wir ab, und gleich darauf befanden wir uns auf dem stillgelegten Bahndamm, der uns nun auch eine ruhige und angenehme Fahrt aus der Stadt heraus ermöglichte. In Fana bogen wir nach Krokeide ab, füllten unsere Vorräte auf und warteten erstmalig eine meßbare Zeitspanne auf unser Schiff.

Die erste Insel des Tages hieß Huftarøy. Die Häuschen deuteten darauf hin, daß hier vorrangig Feriengäste wohnten. Wir hatten noch ein für Radfahrer ungewöhnliches Problem, wir mußten tanken. Durch das häufige Kochen im Wind war unser Benzin schneller als gedacht alle geworden, und wenn es heute abend wieder heißen Tee (mit oder ohne Rum) geben sollte, mußte der Tank aufgefüllt werden. Im belebten Nesttun hatten wir keine Lust gehabt, an eine Tankstelle zu rollen, aber hier schien es so etwas gar nicht zu geben. Endlich entdeckten wir doch ein paar Tanksäulen, und nachdem ich die Bedienungsanleitung aufmerksam studiert hatte, wußte ich auch, wie das Benzin in die Flasche kommt. Hildegard ging bezahlen und wurde erwartungsgemäß entsetzt gefragt, ob wir wirklich nur einen Liter getankt hätten. Kopfschüttelnd gab der Tankwart zwei Kronen Wechselgeld auf unseren Zehn-Kronen-Schein heraus, und wir verließen nun auch für Nächte im Wald gerüstet das kleine Dorf.

Für seine geringe Größe bot das Eiland eine Vielzahl schöner Ausblicke, auch Anstiege und Abfahrten und wunderbar gelegene Badestellen, um die wir in der Mittagssonne die Besitzer beneideten. Schneller als gedacht bog Hildegard ab und fuhr hinunter zum Fährhafen am anderen Ende der Insel. Wieder einmal war ich einem Kartenfehler aufgesessen, denn meine Karte hätte mich hier noch einige Kilometer weiter fahren lassen, wo ich dann vor einer verlassenen Anlegestelle gestanden hätte. Zwei Cappelenkarten sollten uns dem Weg weisen. Für den südlichen Teil hatten wir uns eine aktuelle Auflage gekauft, den nördlichen Anschluß bildete ein geliehenes Exemplar aus dem Jahre 1989. Das reichte uns, denn wir fuhren nur wenige Kilometer ausschließlich nach der alten Karte. Jetzt bewegten wir uns im relativ großen Überlappungsbereich der beiden Blätter und konnten deshalb beide zugleich die Route verfolgen. Wer in Norwegen unterwegs sein will, muß sich aktuelle Karten kaufen. Mit jedem Jahr ändert sich die Bedeutung von Straßen, werden Tunnel gebaut und Fährverbindungen verlegt. Die Cappelen-Karte, die von Kümmerly+Frey in Deutschland preiswert nachgedruckt wird, erwies sich als ausgezeichnet. Natürlich mußten wir uns erst an den relativ großen Maßstab gewöhnen, doch in diesem dünn besiedelten Land reicht der aus. Es gab genug Orientierungspunkte, und außer dem kleinen Schlenker am ersten Tag, als wir noch mit der Karte vertraut werden mußten, haben wir uns während des gesamten Urlaubes nicht ein einziges Mal verfahren.

Von dieser Fähre wußten wir nicht genau, wann sie fährt. Als wir nun so allein am Kai standen, begannen wir schon zu zweifeln, ob wir hier auch wieder wegkommen, doch bald erschien ein LKW und baute sich in der Wartespur auf. Wenig später erschien auch das Schiff zwischen den Inseln und lud uns und die inzwischen eingetroffenen Fahrzeuge auf. Die Autos mußten diesmal rückwärts auffahren, und besonders bei dem LKW mit Anhänger war dazu einiges Geschick vonnöten. Zudem war die Zugmaschine höher als die Durchfahrt auf der Fähre, was ein zentimetergenaues Einparken erforderte. Endlich war alles so, wie es sein sollte, und ich konnte mir das Schiff genauer ansehen. Ich hatte mir das Staunen noch nicht abgewöhnt, denn so oft fahre ich nicht mit Fähren. Die komfortabel eingerichteten Salons im Bauch der Schiffe überraschten mich immer wieder, und so inspizierte ich auch jetzt die unteren Etagen. Doch diesmal stieß ich auf einen Raum, der einer Mitropawartehalle der siebziger Jahre ähnelte, und statt eines kleinen Buffets fand ich auf einem Tisch eine Thermoskanne, Tassen, und einen handgeschriebenen Zettel: "Kaffee 10 NOK". Offenbar fuhren wir auf einer wenig bedeutsamen Route durch die Inseln. Bald hatten wir Sandvikvåg auf der Insel Stord erreicht und schwangen uns wieder auf die Räder.

Nach einigen Kilometern näherten wir uns Fitjar. "Wenn wir heute wild zelten, ist es vielleicht gut, jetzt noch was zu trinken zu holen," meinte Hildegard. Schon auf die Kaufhalle zugehend, fragte sie mich über die Schulter, was ich wolle, und ich bat um eine Coca-Cola. Auf der Bank vor dem Gebäude wartend, stellte ich mir vor, wie das kalte, süße, energiereiche Getränk durch meine Kehle rinnt. Ich trinke nicht sehr oft Cola, doch diesmal hatte ich großen Appetit darauf. Endlich kam Hildegard mit zwei Flaschen, doch trug die eine nicht statt des erwarteten rot-weißen ein weiß-rotes Etikett? Coca-Cola light, nur eine Kalorie pro Liter, genau das Richtige für anstrengende Radtouren! Auch der Kühlschrank war in dieser Kaufhalle zu gut versteckt, die Flasche hatte Zimmertemperatur. Hildegards Limonade schmeckte um Größenordnungen besser. Ich erklärte den Unterschied zwischen den beiden Sorten, und wir lachten herzlich über das Mißverständnis. Ich aß noch ein Stück Traubenzucker, und weiter reisten wir über die reizvolle Insel. Die Straße schlängelte sich zwischen den Bergen dahin, die Höhenunterschiede hielten sich in Grenzen und zuweilen konnten wir das Meer in der Sonne liegen sehen. Schneller als gedacht kamen wir vorwärts, und plötzlich erschien es möglich, noch heute zur nächsten Insel zu gelangen.

In Leirvik fahren die Fähren zweier Linien ab. Wir wollten natürlich nicht mit der häufig fahrenden Europastraßenfähre reisen sondern eine kleinere Linie nach Utboja nutzen. Wir hatten Glück; die letzte Fähre des Tages war noch nicht abgefahren. Die Dreiviertelstunde bis zur Abfahrt nutzen wir für ein Abendbrot am Kai, und dieses Essen mit feinem Sild aus Bergen, Kaviarcreme, Prim (natürlich) in der Abendsonne mit Blick auf die Schäreninseln zählt zu den Höhepunkten des Urlaubs, vielleicht auch deswegen, weil es so unverhofft kam.

Weit eindruckvoller war dann aber die Fährfahrt selbst. Man stelle sich das vor, wie wir beide ganz allein auf dem Oberdeck der Fähre sitzen, das Kielwasser im Gegenlicht der untergehenden Sonne liegt vor uns und wir sehen, wie die Anlegestelle, der Kiosk die Autos zu Schemen verschwimmen und von der ganzen Insel schließlich nur noch ein Strich am Horizont bleibt. Die Sonne strahlte die Wolken von der Seite an, es entwickelte sich ein Sonnenuntergang, wie man ihn eigentlich nur auf Postkarten oder in Filmen sieht. Der Himmel sah aus, als ob er viele schwache Sonnen zeugen wolle, denn die Wolken bekamen plötzlich eine leuchtende Korona, und dazwischen standen wie Säulen die letzten Sonnenstrahlen auf der Erde. Wir konnten uns nicht sattsehen und bemitleideten die Leute, die da unten in ihren Autos saßen und nur das abendgraue Metall der Fähre um sich hatten. Jetzt hätten wir eigentlich schon unser Zelt aufgebaut haben müssen, bereit, in die Schlafsäcke zu kriechen.

Kein Zelt war bereit, wir mußten mit kalten Muskeln einen Anstieg erklimmen. Sobald wir einen schönen Platz finden, halten wir an. So einfach war unser Plan. In Norwegen gibt es noch immer das Jedermannsrecht, man kann zelten wo immer man will, wenn dieser Platz nicht eindeutig als Privatbesitz gekennzeichnet ist oder sich in der Nähe von Häusern befindet. Wir erkannten sehr bald, daß alle ebenen Flecke, die prinzipiell ein Zelt tragen konnten, eingezäunt waren oder an Häuser grenzten. Es gab auch gar nicht viele davon, und so schön die relativ eben in einigen Dutzend Metern Höhe an der Küste entlanglaufende Straße war, so wenig bot sie uns Aussicht für ein Nachtquartier. Wir bogen sogar in eine Seitenstraße ein und suchten auch einen Waldweg ein ganzes Stück weit ab, doch der vermutete ebene Platz erwies sich als Sumpf, und auf den Weg selbst wollten wir das Zelt auch nicht stellen.

Immer mehr drängte die Zeit, die Dämmerung war schon weit fortgeschritten. Da sahen wir eine Wiese, ohne Zaun. Ich zögerte, denn wir konnten die Häuser sehen, in denen vermutlich die Besitzer wohnten. Vor einem Haus sahen wir noch Menschen, und da das vermutlich die letzte Chance war, beschlossen wir, nach einem Zeltplatz zu fragen. Hildegard fuhr los und als ich dazu stieß, wurden die zunächst aufgetretenen Mißverständnisse gerade geklärt. Wir durften auf dem bereits gemähten Teil der Wiese zelten.

Unser Zelt stand in Rekordzeit. Zum einen wollten wir das Schauspiel für die Bewohner des Hauses nicht zu lange ausdehnen. Die wurden offenbar kaum einmal mit solchen Problemen konfrontiert und standen nun zwanglos vor ihrem Haus, um uns aus der Ferne zuzusehen. Zum anderen aber, und das trieb mich noch weitaus mehr an, stürzte sich eine Unzahl kleiner Fliegen auf uns. Sie müssen nur auf uns gewartet haben, und ich überlegte, ob ich die Zähne zusammenbeiße und die fünf Minuten für den Zeltaufbau durchstehe oder ob ich anfange, sie zu verscheuchen und dafür zehn Minuten aushalten muß. Endlich waren wir samt unseren Taschen vom Zelt umgeben und konnten aufatmen.

Stavanger

Mittwoch, 21. August 1996, 72 km

Wir erwachten, weil uns ein Traktor zu umrunden schien. Das war natürlich ein Irrtum, aber daß die Bauern einen Blick auf unser Zelt warfen, wenn sie morgens losfuhren, konnten wir verstehen. So standen wir relativ zeitig auf, packten zusammen und rollten schon gegen 7.30 Uhr weiter.

Frühstück Kühl war der Morgen, wir fuhren fröstelnd durch den Schatten der Berge und Bäume. Wenn ein Seitental die Bergkette durchschnitt, erreichten uns manchmal schon die ersten wärmenden Sonnenstrahlen. Auch auf den nächsten Kilometern sahen wir keinen schönen Zeltplatz, so daß wir uns nicht ärgern mußten, zu früh unser Lager aufgeschlagen zu haben. Obwohl die Karte nur wenige Orte an dieser Straße auswies, war doch fast immer ein Haus oder eine Hütte zu sehen. Schließlich kamen wir in einen Ort, der sich durch geheizte Straßen auszeichnete. Es war verblüffend, welche Wärme uns plötzlich von dem Asphalt entgegenschlug. Außerdem führte eine Straße 200 m hinunter zum Fjord, und da wir einen Frühstücksplatz suchten, folgten wir ihr. Wir stießen auf einen kleinen Yachthafen, eine Wasserleitung, einen Rastplatz mit Tischen und Bänken und einen wunderschönen Ausblick auf Wasser, Berge und Schiffe. Die Welt war in Ordnung. Wir wuschen uns, deckten den Frühstückstisch und fanden unseren Urlaub wieder einmal großartig.

Weiter ging es nach Süden auf diesem Teil des Festlandes, der schon fast eine Insel ist. Wir sahen eine kleine Ölplattform, ein kleiner Hinweis auf die Quelle des norwegischen Reichtums, dem wir auch die hervorragenden Straßen verdanken. Ein paar Kilometer Fernverkehrsstraße, dann waren wir wieder allein. Diese Gegend ist touristisch kaum erschlossen, der Hauptverkehr sucht sich andere Trassen nach Süden. Obwohl das Profil keine besonderen Ansprüche stellte und diese Tour sogar als leicht beschrieben war, trat es sich heute wieder einmal schwer in die Pedalen. Doch zwischen Felsen und Bäumen konnten sich die Gedanken an schmerzende Muskeln nur selten in den Vordergrund drängen.

Eine Schleuse wurde zur Besichtigung empfohlen, und da wir schon eine ganze Weile unterwegs waren, folgten wir dem Hinweis und machten Pause. Das Bauwerk ist die einzige Salzwasserschleuse Norwegens und brachte den Anwohnern des Fjordausläufers industriellen Aufschwung. Eine Tafel informierte über die Entstehungsgeschichte Anfang des Jahrhunderts und zeigte Fotos vom Bau. Aber was kann das schon neues für eine Groningenerin bringen? Hildegard hat Tag für Tag Schleusen in beliebiger Menge um sich, und als sich ein Schiff näherte, ging sie demonstrativ einkaufen. Ich schaute zu, wie sich die Tore in der richtigen Reihenfolge schlossen und öffneten, wie die Straße gesperrt und die Brücke hochgeklappt wurde. Als der Verkehr wieder floß und das Boot darauf wartete, daß das andere Tor aufgeht, kehrte Hildegard zurück. Ich hatte mir erneut Coca-Cola bestellt - zum einen, um den Geschmack der Light-Version vergessen zu machen, aber auch zur Übung. Beim letzten Schluck spürte ich einen Stein im Mund. Erstaunlich, daß so große Klumpen in eine Cola-Flasche geraten können, dachte ich und polkte das Ding zwischen den Zähnen hervor. Das Teil glänzte silbern und entpuppte sich als große Plombe. Bedarf es eines weiteren Beweises für die Schädlichkeit von Coca-Cola? Zum Glück verursachte das beachtliche Loch in meinem Zahn keine Schmerzen, so daß dieser Verlust keine Auswirkungen auf unseren Urlaub hatte. Binnen zweier Tage hatte ich mich auch an den Hohlraum gewöhnt.

Weiter reisten wir nach Süden, schauten auf einen Fjord zur linken und einige Kilometer weiter auf einen Fjord zur rechten Seite. Das Land war hier sehr schmal. Ein See voller Schären glänzte im Wald. Ein Luftballon trieb über die Straße. Wir fingen ihn ein, doch die Aluminiumfolie an seinem Strick enthielt keinen Brief an einen unbekannten Empfänger. Wir befreiten den Ballon von seinem Ballast und ließen ihn wieder frei. Schnell gewann er an Höhe und entzog sich im Blau des Himmels unseren Blicken.

Nach einer längeren Talfahrt kam uns hinter einem kleinen Hügel ein Radler-Pärchen entgegen. Vielleicht konnten sie uns sagen, wann die Schnellboote von Nedstrand nach Stavanger fahren? Wir wußten bisher nur, daß sie zweimal täglich verkehren. Also hielten wir an, doch die beiden kannten verständlicherweise nur die Abfahrtszeiten in Stavanger. Sie hatten nun die ersten zehn Kilometer auf dem Rad hinter sich und schauten schon recht erschöpft unter ihren Helmen hervor. Sie schleppten auch viel mehr Taschen als wir, doch deren Volumen oder Gewicht kann ich schlecht abschätzen. Wir erfuhren, daß sie in etwa zehn Tagen in Bergen ankommen wollen und dieselbe Route wie wir befahren. Hildegard plauderte munter über die Schönheiten dieser Strecke, insbesondere des letzten Stückes, auf dem wir nur bergab rollten. Sie erwähnte, daß wir gestern in Bergen gestartet waren und uns im Urlaub nicht übernehmen wollen und deshalb nur vierzig bis achtzig Kilometer am Tag fahren. Uns wurde erst hinterher klar, daß diese Sätze auf die beiden recht demoralisierend gewirkt haben müssen. Sie hatten sich eine als einfach gekennzeichnete Strecke herausgesucht und waren nun seit einer Weile nur bergauf gefahren. Von uns erfuhren sie, daß das vorerst auch so bleibt. Aber wir fanden auch ein paar motivierende Worte, erzählten, wie wir uns allmählich daran gewöhnt haben, steile Strecken so langsam wie möglich emporzuklettern, und daß uns die Berge nun nicht mehr so schrecken. Wir kannten Bergen nur im Sonnenschein, auch Hildegards Besuch vor zwei Jahren fand im schönen Wetter statt. Diesen beiden war Bergen als Regenstadt vertraut, und ich fürchte, daß sich auch diesmal kein neuer Eindruck ergeben hat. Ich hoffe, sie hatten trotzdem ein paar schöne Tage und haben ihre Tour nicht frustriert abgebrochen.

In Nedstrand suchten wir zuerst den Fähranleger. Nachdem kein Fahrplan zu finden war, verschwand Hildegard in einem Geschäft. Der Inhaber erklärte, daß die Boote nur noch zweimal am Tag verkehren, 8.00 Uhr und 15.00 Uhr, und daß wir folglich wohl in Nedstrand übernachten müßten und genug Zeit hätten. Hildegard machte ihn darauf aufmerksam, daß es in einer halben Stunde 15.00 Uhr wäre und da ja wohl irgendwas nicht stimmen könnte. Tatsache, der arme Kerl lebte in einer falschen Stunde. Natürlich, das Schnellboot muß ja bald kommen. Wir kauften uns ein Eis und ein paar Kekse für die Fahrt, dann warteten wir.

Es stellten sich noch ein paar Leute ein, doch die liefen alle vor auf den Kai und warteten nicht an der Fährenanlegestelle. Wir schlenderten einfach mit unseren Rädern hinterher. Mit wenigen Minuten Verspätung brauste das Doppelrumpfboot um einen Felsvorsprung herum und ließ eine schmale Gangway auf den Beton des Kais fallen. Während das Aluminium langsam über den Boden schabte, sprangen die anderen Leute auf. Dann sah der Kapitän unsere Räder und brachte das Schiff kurz zur Ruhe. Wir hatten unsere Räder kaum auf das Metall geschoben, als die Gangway auch schon wieder etwas angehoben wurde und das Schiff beschleunigte. Das hieß also nicht zu unrecht Schnellboot. Ich erinnerte mich, daß bei allen Verkehrsmitteln der größte Zeitgewinn durch Minimierung der Zeit an Haltestellen zu erzielen ist. Hier hatte man also auf die langwierige Mitnahme von Autos verzichtet und das An- und Ablegen zur Perfektion getrieben. Als unsere Räder ihren Platz gefunden hatten - gleich neben dem Eingang - lagen schon mehrere Hundert Meter zwischen Nedstrand und uns. Die hohe Geschwindigkeit bei der Fahrt selbst wurde mit Lärm erkauft. Wir setzten uns wieder auf das Oberdeck, ignorierten den Krawall und sahen dem Inselhüpfen zu. Wenige Sekunden dauerte die Aufnahme neuer Passagiere, und wenn niemand wartete, fuhr das Boot gleich durch.

In Stavanger dauerte es dann doch eine Weile, bis die vielen Menschen das Boot über die enge Gangway verlassen hatten. Wir verließen das Schiff zuletzt. Ich wollte diese rasende Fähre fotografieren, doch als ich mit dem Apparat in einer günstigen Position stand, war sie schon wieder ein ganzes Stück entfernt, und das nächste Schnellboot legte gerade an.

Wir suchten zunächst den Bahnhof, denn Stavanger wollten wir per Bahn verlassen. Wir fanden einen passenden Zug, der uns am nächsten Tag samt den Rädern wieder nach Osten bringen würde und kauften die Fahr- und Fahrradkarten. In einem Prospektständer entdeckten wir einen Stadtplan, dem wir auch den ungefähren Weg zum Campingplatz entnehmen konnten. Theoretisch war das ganz einfach, doch praktisch war die Route für Autos gedacht. Die einheimischen Radfahrer fuhren auf dem Bürgersteig, was ich mit meinem schweren Rad jedoch ablehnte. Zu oft kamen unerwartete Kanten, ich konnte die Einfahrten nicht rechtzeitig überblicken, und die Wegweiser auf der Straße sah ich auch nicht. Auf der Straße jedoch war die rechte Spur Bussen und Taxis vorbehalten - ob da Fahrräder toleriert werden, wußten wir nicht. In der verbleibenden Autospur zu fahren und den starken Verkehr aufzuhalten, trauten wir uns auch nicht. Teils auf der Busspur, teils auf dem Fußweg gelangten wir endlich zum Campingplatz zwischen zwei Schnellstraßen und wurden an der Rezeption freundlich empfangen.

Die Rezeption war der freundlichste Ort des Platzes. Die Camper untereinander hatten nicht einmal ein freundliches Kopfnicken übrig. Ein paar Sätze mit den Nachbarn über Reiseerlebnisse austauschen? Undenkbar! Meinen Gedanken, unter den Rucksacktouristen interessante Menschen kennenzulernen, ließ ich bald fallen. Wir bauten unser Zelt auf, duschten, aßen Abendbrot und beobachteten nebenbei, wie im Laufe einer Stunde in einigen Metern Entfernung ein kleines Ein-Personen-Zelt errichtet wurde. Dann machten wir uns gesäubert und erholt auf den Weg in die Stadt.

Stavanger gilt als fahrradfreundlich, und tatsächlich fanden wir nun eine separate Fahrradroute am See entlang. Die großen Straßen wurden unterquert, und in der Stadt fuhren wir über Nebenstraßen. Wieder einmal sah ich, daß das Attribut "fahrradfreundlich" den Fernreisenden Probleme schafft, denn wir hatten keine Chance, diese Fahrradtrasse zum Campingplatz in anderer Richtung zu finden. Sie blieb den Ortskundigen vorbehalten. Mit Gepäck wäre sie auch schwer zu befahren gewesen, denn der Weg wurde von Joggern, Spaziergängern und Kindern gleichermaßen mitgenutzt, was eine Fahrt mit normaler Reisegeschwindigkeit auch auf unbepackten Rädern unmöglich machte.

Wir gelangten in die Altstadt. Ich hatte schon bei der Ankunft gesehen, daß uns ein sehenswertes Viertel erwartete, doch jetzt stieg meine Begeisterung noch einmal. In den Häuserzeilen am Wasser befand sich Kneipe an Kneipe, aus einigen drang Musik, und unzählige Menschen flanierten in der Abendsonne oder unterhielten sich bei Wein und Bier. Die Stadt lebte und genoß den Sommer. Ein Blick auf die Preise hielt uns davon ab, auch gleich eine Kneipentour zu starten. Stavanger soll die teuerste Stadt Norwegen sein, und wir glaubten das sofort. Wir aßen ein paar Eis - Temperaturen von 23 °C nach 20.00 Uhr sind in dieser Jahreszeit selten. Als es dunkel wurde, kehrten wir zu unserem Zelt zurück und beschlossen den Abend mit einem Kakao.

Per Bahn durch's Land

Donnerstag, 22. August 1996, 20 km

Nachts wurde ich munter, weil irgendjemand unser Besteck benutzte. Ich wollte aber nicht munter werden, also überlegte ich, ob irgendwelche Lebensmittel im Vorzelt zugänglich sind und träumte weiter. Als das Geklapper nicht aufhörte, stöhnte ich: "Der Igel soll verschwinden!" Das alarmierte die Hildegard: "Ich wundere mich die ganze Zeit, was Du im Vorzelt machst - aber Du warst das ja gar nicht!" Sie schaute durch die Gaze und sah noch, wie sich der stachlige Geselle trollte, um das nächste Zelt zu inspizieren.

Pünklich 7.00 Uhr wurden wir geweckt - wieder von einem Traktor. Genauer gesagt war es ein Abschleppwagen, der das Auto eines Nachbarn abholte. Das hatte der so absurd geparkt, daß mehrfaches Hin- und Herrangieren nötig war. Manche Mitmenschen sind wirklich rücksichtsvoll!

Uns blieb nun genug Zeit, in aller Ruhe zu frühstücken und zusammenzupacken. Da, beim Aufbruch, kam die erste Reaktion unserer Nachbarn, und wir bekamen zumindest von dem Jungen einen Abschiedsgruß mit auf den Weg. In der Stadt schlenderten wir noch einmal am Kai entlang. Am Fischmarkt kauften wir zwei Lachssteaks für das Abendbrot. Ein Dreimaster wurde gerade beladen. Die Mannschaft bestand aus Urlaubern, die sich bei der Arbeit auf einem alten Segelschiff erholen wollten. Es interessierte uns, was da passierte - ob das auch eine Urlaubsvariante für uns sein könnte? Ein leichter Nieselregen trieb uns dann zum Bahnhof.

Wir hatten uns mit Neslandsvatn ein Ziel herausgesucht, das wir ohne Umsteigen erreichen konnten. In Norwegen muß man die Räder auf dem Bahnhof aufgeben. Wenn das etwa 30 Minuten vor der Abfahrt passiert, reisen sie im gleichen Zug mit, doch bei Umsteigevorgängen kann auch mal etwas schiefgehen. Es fällt dem Reiseradler schwer, sich von seinem Gefährt zu trennen, und auch wir waren ein wenig unruhig, als unsere Räder in der Gepäckannahme verschwanden. Ich kaufte mir einen neuen "Spiegel" - meine übliche Urlaubslektüre. Draußen hatte sich ein kräftiger Regenschauer entwickelt, und wir freuten uns, trocken im Zug zu sitzen und unsere Räder im Gepäckwagen hinter uns zu wissen. Da störte es uns auch nicht, daß per Lautsprecher eine Verspätung bekanntgegeben wurde. Der Strom war ausgefallen, und wir warteten auf eine Diesellokomotive, die uns aus dem Bahnhof schleppen sollte. Nach etwa 20 Minuten ging es dann los, und wir spürten deutlich, daß ein Rangierlokfahrer nicht im Umgang mit langen Reisezügen geübt ist. Mit einem kräftigen Ruck brachte er den Zug in einem Vorortbahnhof zum Halten. Hier konnte unsere E-Lok wieder mit eigenem Antrieb fahren.

Zu einer Norwegenreise muß auch eine Fahrt mit der Eisenbahn gehören. Diese Empfehlung können wir nun auch geben. In dem dünn besiedelten Land werden die Strecken nur eingleisig ausgebaut, und die Fahrt in engen Kurven zwischen steilen Felswänden, an Abhängen entlang, durch Tunnel und über Brücken fasziniert nicht nur Eisenbahnfreunde. Einmal hielt der Zug an, weil ein Gegenzug kreuzen sollte. Nachdem dieser vorbeigefahren war, begannen wir wider Erwarten rückwärts zu rollen. Die Gunst des letzten Wagens nutzend, schaute ich nach der Ursache. Weit entfernt sah ich eine Gestalt dem Zug hinterherrennen, etwas näher erkannte ich unsere Schaffnerin, die nach beiden Seiten gestikulierte. Der Zug rollte ihr ein paar Hundert Meter entgegen und hielt wieder an. Nun rannten Schaffnerin und die Gestalt, die sich als Mann mit Aktentasche entpuppte, gemeinsam auf den Zug zu. Ich öffnete den beiden die Tür, und heftig atmend kletterten sie hinauf. Jetzt ruckte der Zug an und fuhr in der richtigen Richtung los. Ich war beeindruckt von der Flexibilität der norwegischen Bahnen.

In Neslandsvatn stiegen wir aus. Ich rannte zum Gepäckwagen. Werden unsere Räder auch ausgeladen? Es war niemand zu sehen, und die Tür war verschlossen. Ich sprang hinauf und sah, daß auf der anderen Seite noch ein Bahnsteig war, und dort standen auch schon unsere Räder. Erleichtert beobachteten wir die Ausfahrt des Zuges. Wir gaben dem Stationsvorsteher unsere Belege und beluden die Räder gleich am Bahnsteig. In welche Richtung sollten wir nun losfahren? Zunächst fuhren wir in zwei Sackgassen, denn die Häuser, die wir vom Bahnhof aus sahen, bildeten das Ende des Dorfes. Der dritte Versuch gelang. Das "Zentrum", also die Kaufhalle, lag hinter einem Wäldchen und dort fanden wir auch die gesuchte Straße, auf der wir weiter nach Süden fahren wollten.

Eine kleine Stichbahn begleitete die Straße, das Profil war also einfach. Schon nach 18 Kilometern fanden wir einen kleinen Campingplatz an einem See. Hier herrschte deutlich Nachsaison. Nur zwei Hütten waren belegt. Die Einwohner der einen sahen wir überhaupt nicht. Sie schliefen schon, als wir kamen, und standen gegen 4.00 Uhr auf. Vielleicht waren es Angler oder Ornithologen. Unser Abendbrot mit Fischsuppe und Lachssteaks war wieder ein Genuß. Ich schwamm noch ein paar Züge in dem herrlichen See, dann gingen wir zu Bett.

Nachts war der Himmel klar, ein paar Sternschnuppen zogen ihre Bahn, und von ferne wetterleuchtete es. Der angekündigte Regen blieb aus.

Die letzte Tour

Freitag, 23. August 1996, 73 km

Wir begannen den Tag mit einem Bad im See. Als wir nach dem Frühstück das Zelt abbauten, die Räder bepackten und den Platz verließen, schien es uns, als ob wir die letzten Gäste wären. Hier war der Sommer zu Ende, und wir waren auch ein wenig traurig. Wir hätten gern noch einige Nächte auf Plätzen wie diesem verbracht.

Wir fuhren zunächst zur Küste und an dieser in ständigem Auf und Ab nach Osten. Die Stichbahn, an der wir zunächst entlangradelten, konnte nicht mehr befahren werden, wie wir an einer fehlenden Brücke erkannten. In Helle tauschten wir noch einmal 100 DM, wovon 200 Kronen gleich im benachbarten Supermarkt blieben. Die Beamtinnen waren sehr stolz, daß sie mit dem unbekannten Postsparbuch zurechtgekommen waren.

Ein Stück Fernverkehrsstraße ließ sich nicht umgehen und war wieder sehr anstrengend. Natürlich - ein Freitag, und wir gerieten genau in den Osloer Wochenendverkehr. Endlich kamen wir aber in Langesund an. Von hier sollte in der Saison viermal täglich eine Fähre nach Helgeroa fahren. Die Anlegestellen für die Fähren nach Deutschland und Schweden wurden weithin ausgeschildert - Wieso fuhren wir eigenlich nicht von hier aus nach Hause? - doch wo fährt unser Schiff ab? In der Hafenaufsicht wußte man die ungefähre Richtung, und als wir die Umgebung des beschriebenen Platzes absuchten, fand sich auch ein Fahrplan. Unsere Informationen stimmten, nur war die Saison hier schon am 9. August zu Ende. Jetzt fuhr die Fähre nur noch viermal wöchentlich: Mittwochs, Freitags, Sonnabends und Sonntags. Es war also wirklich Glück, daß wir nur drei Stunden warten mußten. Das Mittagessen stand sowieso noch aus, also aßen wir erst einmal ausgiebig und genußvoll. Ein Stadtbummel bestätigte den Eindruck des Saisonendes. Ausverkauf, Räumungsverkauf, zum Teil hatten die Geschäfte schon geschlossen, und nach 16.30 Uhr arbeitete nur noch der Supermarkt. Es herrschte eine Stimmung, die zum Ende des Urlaubs paßte.

Zwischen Langesund und Helgeroa An der Anlegestelle stellten sich einige Passagiere und das Schiff ein. Es war ein kleines Boot, vielleicht 50 Personen konnten maximal mitfahren. Für die Wartenden und unsere Räder, die wir mühsam hineinhoben, war jedoch genug Platz. Verglichen mit den anderen Überfahrten war diese relativ teuer. Die Fähre steuerte die Schäreninseln an. Viele der kleinen Inseln trugen Wochenendhäuser, und jetzt, am Freitagabend, herrschte dort lebhaftes Treiben. Kinder badeten, die Erwachsenen saßen in der Sonne und unterhielten sich. Plötzlich steuerte das Schiff direkt auf die Schären zu. Weit und breit war keine Anlegestelle zu sehen, dafür ragten aber viele, manchmal nur quadratmetergroße Inseln aus dem Wasser. Davon muß es doch auch noch unter Wasser welche geben, dachte ich. Aber der Kapitän wird sich hoffentlich hier auskennen. Zwischen den Inseln sah ich nun einen schmalen Spalt, zu schmal für das Schiff. Doch auf eben diesen Spalt zeigte der Bug, und die Geschwindigkeit nahm nicht ein bißchen ab. Rechts und links blieb rund ein halber Meter Platz, als wir in sanftem Bogen durch die Engstelle glitten. Ich war beeindruckt. An jeder Anlegestelle verließen ein paar Leute das Boot. Als wir in Helgeroa anlegten, waren wir alleine übrig geblieben, und der Fahrpreis erschien uns nun gar nicht mehr als zu hoch.

Weil es nun später als geplant war, verzichteten wir auf die Fahrt an der Küste entlang und fuhren direkt nach Larvik. Verkehrsschilder warnten vor Elchen, doch wir vermuteten, daß die mehr als Fotoobjekte für die Touristen gedacht waren. Mit Schwung rollten wir in Larvik ein und suchten zuerst das Fährterminal auf. Am nächsten Morgen sollten wir schon 7.30 Uhr hier sein, da war es besser, den Weg zu kennen.

Zum Campingplatz mußten wir noch etwa fünf Kilometer zurücklegen. Direkt am Ufer des Fjords gelegen und von allen großen Straßen weit entfernt, zählt dieser Platz zu den schönsten auf unserer Tour. Zudem war er noch ausgesprochen billig. Letzteres beruhte auf einem Schild an der Rezeption, wonach jemand vorbeikommen und kassieren wolle. Mit Campern, die schon um 7.30 Uhr auf einer Fähre sein wollten, rechnete jedoch niemand.

Die Sonne streifte gerade den Horizont, als wir eintrafen. Ich setzte mich auf die Klippen, ließ den Blick über das Wasser schweifen und erinnerte mich noch einmal an die Erlebnisse des Urlaubs. Wir hatten Glück gehabt, Glück mit allem - mit dem Land, mit seinen Menschen, mit unseren Rädern, mit dem Wetter und nicht zuletzt mit uns selbst. Ein solcher Urlaub verdient es, in der Erinnerung bewahrt zu werden - das ist ein Grund für das Entstehen dieses Textes.

Heimreise

Sonnabend, 24. August 1996, 54 km

Der Rest ist schnell erzählt. Es gelang uns, ohne Wecker pünklich zu erwachen, zu packen und zu starten. Unterwegs setzten wir das auf dem Campingplatz gesparte Geld bei einem Bäcker in Kuchen um. Die Straßen waren noch leer, und wir trafen ohne Verzug am Fährterminal ein. Das Schnellboot lag mit geöffneter Heckklappe bereit, einige Autos warteten neben uns. Tiefhängende Wolken schleppten sich über den Fjord, und ein leichter Nieselregen setzte ein. Das war ja gemein! Die Fußgänger warteten im Terminalgebäude, die Autofahrer saßen in ihren Autos, und wir sollten jetzt noch naß werden? Dabei war der "letztmögliche Termin zum Einchecken" schon verstrichen. Endlich erschien ein Arbeiter und gab uns ein Zeichen. Erleichtert rollten wir auf das Schiff und ließen unsere Räder mit einem dicken Tau sichern. Wir waren vorerst die einzigen Passagiere. In den Fahrgasträumen erledigten die Stewardessen noch die letzten Handgriffe. Jetzt goß es draußen in Strömen. Nach etwa einer Viertelstunde trafen die anderen Passagiere ein, der Raum füllte sich nun schnell. Bald darauf legten wir ab. Wir verließen Norwegen im Regen und waren doch bis zuletzt trocken geblieben!

In Skagen angekommen packten wir unsere Regencapes aus, ließen uns von einem Automaten etwas Geld geben und fuhren nach Frederikshavn. Es gibt einen stark befahrenen Radweg durch den Wald. An einer Wanderdüne, die mit etwa 50 cm pro Jahr dahineilt, machten wir kurz Halt. Hildegard versuchte, bis zur Küste vorzudringen, doch nach der zweiten Düne gab sie auf. In einer Kro aßen wir etwas später einen vorzüglichen Lunch mit mehreren erlesenen Sorten Fisch.

Mal fuhren wir vor der Regenwolke, mal hinter, mal unter ihr. Frederikshavn erreichten wir gemeinsam mit ihr, und wir waren froh, im Vandrerhejm ein trockenes Zimmer zu finden. So blieb unser trocken verpacktes Zelt auch weiterhin trocken. Am Sonntag standen wir wieder zeitig auf und ließen uns und unsere Räder von einem Interregio nach Deutschland bringen. Hildegard stieg in Hamburg aus und reiste weiter nach Groningen, ich fuhr über Hannover und Leipzig nach Chemnitz.

Ein traumhafter Urlaub liegt nun hinter uns, doch an Ideen für weitere Touren durch Norwegen mangelt es nicht. Das Land der Fjorde und Berge wird uns gewiß wiedersehen.

Sonnenuntergang

Text: Ralph Sontag (Sontag@MahJongg.IN-Chemnitz.De)
Fotos: Hildegard Geisler